Donnerstag, 24. April 2008
Ein Stück vom Bach (Hansgeschichten)
Hans stand im Bach und überlegte, ob er was riskieren sollte. Nur wenige Meter, dann hätte er die alte Steinbrücke erreicht. Drunter hergehen oder doch besser außen herum? Er spürte wie das Wasser kühl um seine Waden strich. Es war trüb und hatte die Farbe des Kaffees, wie sein Vater ihn mit reichlich Milch zum Frühstück trank. An normalen Tagen hatte der Bach immer nach feuchter Erde gerochen. Jetzt war es ihm, als ob es vor ihm aus dem Maul eines großen schwarzen Hundes roch.
Hans war bis hierher durch den ganzen Bach gewatet. Er war wie jedes Mal an jener Stelle die steile Böschung hinab gestiegen, wo das Wasser flach über ein Bett aus schwarzen und weißen Kieselsteinen kroch, und wo er am liebsten lange Zeit in der Sonne saß, weil er dem Plätschern des Baches lauschen konnte, das hier das Lauteste war – wenn man das Rauschen der hohen Pappeln und Schwarzerlen erstmal ausgeblendet hatte. Das Bachplätschern klang wie ganz sanftes Klavierspielen, ganz zart, ganz hell, ganz fein. Er stellte sich vor, was für feine Hände der Spieler haben musste, wenn er so zart spielen konnte. Er musste die Musik sehr lieben, so zart war sein Spiel. Immer, wenn Hans die Musik hörte, war es ihm, als würde er träumen. Er hatte die Augen geschlossen und die Musik war da. Sie floss durch seinen Kopf. Er öffnete die Augen und die Musik war immer noch da. Seit damals war es immer diese Musik, die er auch anderswo zu finden suchte.
Als er die Stelle mit den weißen und schwarzen Kieselsteinen hinter sich gelassen hatte, sah er das alte Telegrafenhaus. Es war aus roten Ziegeln gebaut. Es war eine Art Turm, in dem man sich gewiss prima hätte einrichten können. Der Turm war so hoch wie zwei Männer und er musste den Kopf ganz in den Nacken legen, wie er unten im Bach stehend nach oben sah. Der Turm lag im Schatten der alten Pappeln, Weiden und Erlen, die hier am Bach Spalier standen. Die Pappeln und Erlen waren so hoch, dass sie bis in den Himmel wuchsen und herrlich rauschten, wenn der Wind in ihre Kronen fuhr. Weiter oben kam ein Stück ohne Pappeln und Erlen. Hier standen die alten Kopfweiden, die hohl waren und sich zum Klettern anboten. Das letzte Stück hinter der Steinbrücke war wieder mit Pappeln und Erlen bestückt; und dann kam auch bald das Dorf und der Bach verschwand zwischen den Häusern, die alle Gärten hatten, die bis an den Bach heran reichten.
Der Turm hatte eine Tür aus Eisen. Auf der Tür aus graulackiertem Eisen warnte ein gelbes Schild mit schwarzem Blitz vor der tödlichen Gefahr. Auf dem Turm saß ein steiles Satteldach mit schwarzen Dachpfannen. Von den beiden Giebelseiten führten schwarze, fingerdicke Drähte weg. Da, wo sie vom Haus wegführten, waren faustgroße weiße Kugeln. Wenn einer der schwarzen Drähte reißen und in den Bach fallen würde, dann wäre er sofort tot, dachte er jedes Mal. Er würde mit dem Bach ins Meer treiben und seine Mutter würde um ihn weinen.
Das Wasser des Baches floss träge und es war leicht gewesen mit der Strömung zu waten. Der Bach war nirgends mehr als einen halben Meter tief. Mal umspülte er die Knöchel, wie an der Stelle mit den Kieseln, weiter oben wurde das Bachbett schmaler und der Grund schlammig. Hier reichte das Wasser bis über die Knie. Er ging dann auch langsam, weil sich die Füße im Schlamm festsogen und der Grund nicht mehr sichtbar war. Vor ihm war das Wasser graubraun wie Putzwasser, hinter ihm wirbelten braune Schlammwolken auf. So sah es aus, wo der Orinoko in den Amazonas floss. An beiden Seiten des Baches waren Wiesen. Das Gras wuchs in langen Büscheln über die Böschung in das Wasser hinein und die Strömung kämmte die Grashalme immer in die gleiche Richtung. Auf der Wasseroberfläche liefen kleine grünlich schimmernde Käfer. Mit der Strömung trieb manchmal ein Ast auf einen zu, trieben Blätter vorbei und manchmal schwamm auch eine Bierflasche heran. Es konnte passieren, dass man in eine Scherbe trat. Hans war das nur einmal passiert, es hatte geblutet und es war eine Narbe geblieben. Das Dümmste aber war, dass man bei einer Verletzung warten musste, bis sie zugeheilt war. Es konnte ein oder zwei Wochen dauern, bis man wieder in den Bach steigen durfte.
Da er seine Füße nicht sehen konnte, wenn er durch den Bach watete, war es ein komisches Gefühl, wenn etwas um seine Beine strich. Es konnte alles sein. Wenn es etwas Hartes war, dachte er an einen Schuh. Wenn es etwas Weiches war, dachte er an eine Graswurzel. Jedenfalls, wenn er sich zureden wollte. Er konnte sich aber auch etwas anderes vorstellen. Zum Beispiel ein Tier, eine Schlange oder eine Ratte, obwohl es hier keine Schlangen gab. Dann machte er drei, vier entschlossene Schritte nach vorn, dass das Wasser vor seinen Beinen anschwoll und ihm bis auf seine kurzen Hosen spritzte. Hans hatte hier noch nie eine Ratte gesehen, aber er war sicher, dass es sie gäbe, weil die Leute es erzählten. Riesen Viecher, so groß wie Katzen. Neulich habe der Bauer wieder eine mit dem Spaten erschlagen, hatte sein Vater ihm erzählt; bei der Steinbrücke war’s. Alles, von dem ein starker Geruch ausging, würde sie anlocken und Blut, da wären sie besonders toll. Hans wusste, wenn ihm eine begegnen würde, nähme er einen starken Ast und würde sie totschlagen. Er würde es ihnen schon zeigen, wer der Herr war am Bach.
Das Bachbett war nirgends besonders breit. Nur nach einem Regen, wenn der Bach mehr Wasser führte. An jeder Stelle konnte man drüberspringen. Das machten die Jungs, weil es eine Mutprobe war. Es gab nur eine Stelle, die man unmöglich überspringen konnte. Das war die Stelle, wo das Kiesbett war. Hier hätte es einfach an Anlauf gefehlt, weil die Böschung steil abfallend war. Anderswo war es kein Problem; auch für Hans nicht, obwohl er körperlich zu den Kleinsten zählte. Nein, es war überall zu schaffen, außer bei Hochwasser, wenn es tagelang geregnet hatte. Dann stieg der Bach um bis zu einen Meter an und machte sich breit in seinem Bett. An normalen Tagen reichte ein guter Anlauf und man war drüben, mit einem Satz. Ein schlechter Anlauf kostete wertvolle Zentimeter und man landete im Bach. Manchmal nur mit einem Bein, manchmal ganz. Dann zog man zuhause trockene Sachen an und probierte es sofort erneut. Wenn man es nicht sofort wieder anging, ging man es vielleicht nie mehr an.
Im Bach lebten Stichlinge, die man fangen konnte. Das silbrige Fischchen war nicht größer, als der kleine Finger und auf dem Rücken hatte es drei Stacheln, weshalb die Leute hier am Bach dazu Stachelditzchen sagten. Die Art zu fischen war einfach. Man brauchte entweder ein altes Küchensieb oder man konstruierte einen Köcher aus einem Damenstrumpf, dessen Öffnung man um einen rundgebogenen, starken Draht spannte. Stachelditzchen waren überall im Bach. Man fing sie am besten an seichten Stellen; dort, wo das Wasser nicht so trüb war und die Fischchen in ihrer Bewegung eingeschränkt waren. Der beste Platz war, wo die schwarzen und weißen Kiesel lagen. Er baute eine Art Becken aus den größeren Kieseln. Eine Wanne im Bach, in die er seinen Fang mit dem Sieb oder dem Köcher treiben und aus der er Fisch für Fisch herausschöpfen konnte. Am Ufer hatte er ein großes Glas mit Wasser vorbereitet, in dem er die gefangenen Fischchen aufbewahrte. Das Wasser war aus dem Bach und in dem Glas sah es viel klarer aus. Er konnte ganz hindurchsehen und betrachtete die Fischchen und kleine Teile, die im Wasser schwebten. Er zählte die Fischchen und er war zufrieden, wenn er viele gefangen hatte. Sein Rekord stand bei sechsunddreißig an einem Nachmittag. Er war sich nicht bewusst, wann genau der Nachmittag anfing und wann er endete, aber er war lange genug, um reichlich Beute zu machen. So lang, wie zu der Zeit an dem Bach, war ihm nie mehr wieder ein Nachmittag vorgekommen.
Inzwischen war er schon ein gutes Stück gewatet und er musste bald die Steinbrücke sehen. Bis dahin wollte er einen Entschluss gefasst haben: unter der Brücke durch oder doch raus aus dem Bach. – Hätten die Leute doch nur nie von den Ratten erzählt.
Geschrieben von
in Weite Welt
um
14:30
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