Mittwoch, 4. Oktober 2006
Amsterdam
Regen und Wind. Vor allem Wind. Der dumme Tourist kauft am Bahnhof einen Schirm. Er zahlt 14 Euro 50 – oder, wenn er der ersten Versuchung widerstehen kann, zehn Euro weniger. Er kann. Aber dumm ist er trotzdem. Er weiß noch nicht, dass Schirme in Amsterdam keine Überlebenschance haben. Für einige Minuten verfällt er dem Glauben, sich hinter dem Schirm – denn der Wind bläst ihm entgegen – schützen zu können. Der Schirm kann vor dem Wind aber nur bestehen, in dem er nachgibt. Er nimmt eine aerodynamische Form an, wie ein Fisch. Auch der Tourist gibt nach und versucht den Schirm zu schließen. Aber in der gedrungenen Form des Fisches lässt sich der Schirm nicht beherrschen. Der dumme Tourist überlegt eine Sekunden lang, ob er sich vom Wind abwenden soll, aber das würde nur dazu führen, dass der Schirm umschlägt und das Innere des Fisches nach außen gekehrt würde. Die Gräten wären zu sehen und schließen ließe sich der Schirm auf diese Weise auch nicht. Inzwischen regnet und stürmt es weiter auf den Touristen ein, während sich der Fisch im Wasser recht wohl zu fühlen scheint. Der Tourist entdeckt andere dumme Touristen mit Schirmproblemen um sich herum und sieht ein, dass es so keinen Zweck hat.
In der Zwischenzeit hat er den Schirm in einem windstillen Moment schließen können.
Der Wind bleibt aber nicht still, sondern bläht sich zu einem ordentlichen Sturm auf mit Böen. Der Tourist hat Mühe an der Ecke Keizersgracht/Vijzelstraat nicht von der Straße ins Wasser gefegt zu werden. Das Gute am Wind ist, dass der Regen nicht zu spüren ist. Es ist wie ein nasser Wind, der weht. Der Tourist kommt auf die Idee, dass man ein neues Gütesiegel für Schirme entwickeln sollte: Windprooft in Amsterdam.
Im Weitergehen fallen dem Tourist die städtischen Abfalleimer auf, die mit ihren offenen Mäulern nach seinem Schirm gieren. Beim nächsten Versuch mit geöffnetem Schirm die Nieuwe Doelenstraat herunterzugehen, muss der Tourist stehen bleiben und den Schirm mit beiden Händen halten, unfähig zu sehen, was von vorne kommt, ob ein Auto oder ein Fahrradfahrer ihn übersehen würde; genauso blind wie er selbst. Er hört seitlich das Lachen einer jungen Fahrradfahrerin, die aber gerade nicht fährt, sondern ihr Fiz schiebt und im zulacht. Er macht mit seinem Schirm eine komische Figur, aber das macht ihm jetzt nichts. Er freut sich über das Lachen der jungen Frau. Wenn er nicht mit dem Schirm, dem Wind und dem Regen zu kämpfen hätte, wären rechts und links kleine Antiquitätenläden zu sehen. Aber wer ist so dumm, bei Regen vor dem Schaufenster zu stehen und in aller Ruhe die Auslagen zu betrachten. Zu dumm, denkt der Tourist, und bemerkt, dass er jetzt selbst Wasser lassen könnte – viel mehr müsste – und beschließt, seinem ursprünglichen Plan folgend, dass Van-Gogh-Museum aufzusuchen, nach dem er jetzt schon eine Viertelstunde gesucht hat. Das riesengroße Backsteingebäude vor sich sehend, glaubt er sich wieder am Central Station; es ist aber nicht der Bahnhof, sondern das Rijksmuseum. Er läuft dann weiter, verläuft sich noch einmal und läuft fast bis zum American Hotel, wo im sein Orientierungssinn zur Hilfe kommt und ihm den richtigen Weg weist. Er denkt an van Gogh und Gaugin und das Gelbe Haus in Arles. Aber dort soll das Wetter ja auch schlecht gewesen sein. Schlecht wurde in Folge dessen auch die Stimmung zwischen den beiden Malern. Es kam zu Streit und Wutausbrüchen, weshalb sich Gaugin vorzeitig zur Abreise entschloss und van Gogh sich sein linkes Ohr abschnitt. Es gibt dieses Bild: Schlafzimmer in Arles, das van Gogh 1888 aus Freude darüber, dass er sich dauerhaft im Gelben Haus in Arles niedergelassen hatte, malte. Und er war mit diesem farbenfrohen Bild so zufrieden, dass er es gleich zweimal malte. So dumm kann der Tourist also gar nicht sein; wüsste noch mehr, aber im Moment interessiert nur der Schirm, dessen Unförmigkeit im aufgespannten Zustand ihn nun nicht mehr an einen Fisch erinnert, sondern nur noch an einen kaputten Schirm, dessen Sekunden gezählt sind.
Er hätte heute Morgen zuhause bleiben sollen, denn außer ihm sind heute Morgen noch jede Menge anderer Touristen nicht zuhause geblieben. Die, die wie er nicht zuhause geblieben sind, in Amsterdam vom Regen überrascht einen Schirm gekauft haben, so wie er, und so wie er durch die Straßen geblasen worden sind, geflucht haben auf den Regen und auf den Regenschirm und auf sich selbst, die sieht er jetzt aus einiger Entfernung vor dem Van-Gogh-Museum in einer langen Schlange stehen. Er ist ärgerlich auf sich selbst und könnte sich ein Ohr…, nein, lieber wirft er das klatschnasse, zusammengestauchte Etwas von einem Schirm den städtischen Abfallbehältern zum Fraß vor. Wie schön könnte Amsterdam bei schönem Wetter sein. So schön wie Venedig; Venedig bei Sonnenschein.
Der Tourist ohne Schirm, aber mit Erkenntnis, versucht den Weg zurück zu gehen, den er gekommen ist. Seine Augen versuchen weiter die Tür zu entdecken, die Tür zu der Stadt, um dahinter das Rätsel der Stadt gelöst zu sehen. Aber diese Stadt will sich ihm so nicht öffnen. Er geht von Wind und Unrast getrieben die Gassen und Straßen ab, die er auf dem Hinweg gekommen ist. Er hat keine Lust mehr, sich zu verlaufen. Obwohl es gerade das ist, was ihm in einer fremden Stadt sonst größte Lust bereitet. Irgendwie ist ihm diese Stadt zu reklamig, zu schrill, zu kommerziell, zu oberflächlich. Und überall dieser Geruch von Rausch in der Nase. „Please smoke your Joint inside”, liest er auf einem handgeschriebenen Schild auf der Terrasse eines Coffee Shops. Ja, bitte, raucht euer Gras nicht outside! Er kann es nicht riechen, ihm wird übel von dem penetranten Geruch, der ihm in den Gassen, in manchen Vierteln unablässig, in der Nase stinkt. Wenn das alles ist, an dem man sich hier berauschen kann, will er lieber in Paris oder Mailand oder sonst wo sein. Zum Beispiel in Madrid. Das denkt er gerade, als er an einem Café vorbeikommt, wo es tapas gibt und das sich El Prado nennt. Nein, Amsterdam ist es nicht, nicht heute. Heute befremdet ihn Amsterdam, das seinen Liberalismus so offen zur Schau stellt, das die Haut seiner Frauen so rot beleuchtet zu Markte trägt. Drugs and Sex und eine Überdosis Leuchtreklame. Das Schönste an Amsterdam ist heute der Zug, der ihn nach Hause fährt.
In der Zwischenzeit hat er den Schirm in einem windstillen Moment schließen können.
Der Wind bleibt aber nicht still, sondern bläht sich zu einem ordentlichen Sturm auf mit Böen. Der Tourist hat Mühe an der Ecke Keizersgracht/Vijzelstraat nicht von der Straße ins Wasser gefegt zu werden. Das Gute am Wind ist, dass der Regen nicht zu spüren ist. Es ist wie ein nasser Wind, der weht. Der Tourist kommt auf die Idee, dass man ein neues Gütesiegel für Schirme entwickeln sollte: Windprooft in Amsterdam.
Im Weitergehen fallen dem Tourist die städtischen Abfalleimer auf, die mit ihren offenen Mäulern nach seinem Schirm gieren. Beim nächsten Versuch mit geöffnetem Schirm die Nieuwe Doelenstraat herunterzugehen, muss der Tourist stehen bleiben und den Schirm mit beiden Händen halten, unfähig zu sehen, was von vorne kommt, ob ein Auto oder ein Fahrradfahrer ihn übersehen würde; genauso blind wie er selbst. Er hört seitlich das Lachen einer jungen Fahrradfahrerin, die aber gerade nicht fährt, sondern ihr Fiz schiebt und im zulacht. Er macht mit seinem Schirm eine komische Figur, aber das macht ihm jetzt nichts. Er freut sich über das Lachen der jungen Frau. Wenn er nicht mit dem Schirm, dem Wind und dem Regen zu kämpfen hätte, wären rechts und links kleine Antiquitätenläden zu sehen. Aber wer ist so dumm, bei Regen vor dem Schaufenster zu stehen und in aller Ruhe die Auslagen zu betrachten. Zu dumm, denkt der Tourist, und bemerkt, dass er jetzt selbst Wasser lassen könnte – viel mehr müsste – und beschließt, seinem ursprünglichen Plan folgend, dass Van-Gogh-Museum aufzusuchen, nach dem er jetzt schon eine Viertelstunde gesucht hat. Das riesengroße Backsteingebäude vor sich sehend, glaubt er sich wieder am Central Station; es ist aber nicht der Bahnhof, sondern das Rijksmuseum. Er läuft dann weiter, verläuft sich noch einmal und läuft fast bis zum American Hotel, wo im sein Orientierungssinn zur Hilfe kommt und ihm den richtigen Weg weist. Er denkt an van Gogh und Gaugin und das Gelbe Haus in Arles. Aber dort soll das Wetter ja auch schlecht gewesen sein. Schlecht wurde in Folge dessen auch die Stimmung zwischen den beiden Malern. Es kam zu Streit und Wutausbrüchen, weshalb sich Gaugin vorzeitig zur Abreise entschloss und van Gogh sich sein linkes Ohr abschnitt. Es gibt dieses Bild: Schlafzimmer in Arles, das van Gogh 1888 aus Freude darüber, dass er sich dauerhaft im Gelben Haus in Arles niedergelassen hatte, malte. Und er war mit diesem farbenfrohen Bild so zufrieden, dass er es gleich zweimal malte. So dumm kann der Tourist also gar nicht sein; wüsste noch mehr, aber im Moment interessiert nur der Schirm, dessen Unförmigkeit im aufgespannten Zustand ihn nun nicht mehr an einen Fisch erinnert, sondern nur noch an einen kaputten Schirm, dessen Sekunden gezählt sind.
Er hätte heute Morgen zuhause bleiben sollen, denn außer ihm sind heute Morgen noch jede Menge anderer Touristen nicht zuhause geblieben. Die, die wie er nicht zuhause geblieben sind, in Amsterdam vom Regen überrascht einen Schirm gekauft haben, so wie er, und so wie er durch die Straßen geblasen worden sind, geflucht haben auf den Regen und auf den Regenschirm und auf sich selbst, die sieht er jetzt aus einiger Entfernung vor dem Van-Gogh-Museum in einer langen Schlange stehen. Er ist ärgerlich auf sich selbst und könnte sich ein Ohr…, nein, lieber wirft er das klatschnasse, zusammengestauchte Etwas von einem Schirm den städtischen Abfallbehältern zum Fraß vor. Wie schön könnte Amsterdam bei schönem Wetter sein. So schön wie Venedig; Venedig bei Sonnenschein.
Der Tourist ohne Schirm, aber mit Erkenntnis, versucht den Weg zurück zu gehen, den er gekommen ist. Seine Augen versuchen weiter die Tür zu entdecken, die Tür zu der Stadt, um dahinter das Rätsel der Stadt gelöst zu sehen. Aber diese Stadt will sich ihm so nicht öffnen. Er geht von Wind und Unrast getrieben die Gassen und Straßen ab, die er auf dem Hinweg gekommen ist. Er hat keine Lust mehr, sich zu verlaufen. Obwohl es gerade das ist, was ihm in einer fremden Stadt sonst größte Lust bereitet. Irgendwie ist ihm diese Stadt zu reklamig, zu schrill, zu kommerziell, zu oberflächlich. Und überall dieser Geruch von Rausch in der Nase. „Please smoke your Joint inside”, liest er auf einem handgeschriebenen Schild auf der Terrasse eines Coffee Shops. Ja, bitte, raucht euer Gras nicht outside! Er kann es nicht riechen, ihm wird übel von dem penetranten Geruch, der ihm in den Gassen, in manchen Vierteln unablässig, in der Nase stinkt. Wenn das alles ist, an dem man sich hier berauschen kann, will er lieber in Paris oder Mailand oder sonst wo sein. Zum Beispiel in Madrid. Das denkt er gerade, als er an einem Café vorbeikommt, wo es tapas gibt und das sich El Prado nennt. Nein, Amsterdam ist es nicht, nicht heute. Heute befremdet ihn Amsterdam, das seinen Liberalismus so offen zur Schau stellt, das die Haut seiner Frauen so rot beleuchtet zu Markte trägt. Drugs and Sex und eine Überdosis Leuchtreklame. Das Schönste an Amsterdam ist heute der Zug, der ihn nach Hause fährt.
Geschrieben von
um
21:36
| Kommentare (4)
| Trackbacks (0)
Tags für diesen Artikel: amsterdam, arles, das gelbe haus, regen, schirm, smoke, van gogh, weite welt
Artikel mit ähnlichen Themen:
Kollektives Knipsen
Für einen kurzen Augenblick scheint die Welt in Ordnung: Japaner, Amerikaner, Deutsche, Franzosen, Italiener, Engländer, sicher auch Schweizer und Österreicher für eine hundertfünfundzwanzigstel Sekunde vereint. Gleiches Interesse, gleiches Ziel. Den Blick gemeinsam aufs Objekt gerichtet, objektives Interesse trotz subjektiver Sicht. Freundliches Zurückweichen bei Blende fünfkommasechs. Dem Nachbarn den Vortritt lassen. Des Fremden Standpunkt übernehmen. Sogar Männer und Frauen sind gleichgestellt. Sie zeigen die gleiche Haltung zu den Dingen. Nebeneinander, miteinander, leicht gebeugt, federnd in den Knien. Ein recht freundliches Bild.