Sonntag, 13. April 2008
matera, basilikata, eine reise durch sueditalien
Am Anfang war die Höhle Ein Text von Karin Lochner
Die Stadt Matera liegt in der italienischen Provinz Basilikata. Das Merkmal der Stadt sind unzählige verschachtelte Höhlen. Obwohl Matera einzigartige Bauwerke und einen großen archäologischen Reichtum aufweist, kommen wenige Touristen in die ehemalige „Hauptstadt der Verbannten“. Der Schriftsteller Carlo Levi, setzte Matera und dem Mezzogiorno mit seinem berühmten Roman „Christus kam nur bis Eboli“ ein literarisches Denkmal. Noch heute, 60 Jahre später, ist ein Besuch in Matera wie ein Spaziergang durch ein lebendiges Geschichtsbuch.
Seit 1993 gehört die Altstadt von Matera zu den knapp 400 Plätzen unseres Planeten, die von den Vereinten Nationen als Weltkulturerbe geschützt werden. Wie Pompeji, Rom und Ravenna. Seither ist die Stadt wie aus einem jahrzehntelangem Dornröschenschlaf erwacht. Matera ist eine Höhlenstadt und seit Urzeiten bewohnt. Die Stadt war 1940, zu Zeiten Carlo Levis die Hauptstadt der vom Mussolini Regime verbannten Intellektuellen und Kritiker. Die Faschisten bauten eine Straße für Autos und ließen ansonsten die verarmte Bevölkerung in Ruhe. Tausende von Höhlenwohnungen mit zwanzigtausend Einwohnern in katastrophalen hygienischen Verhältnissen machten Matera damals weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Es gab es keine Elektrizität, keine sanitären Anlagen, keine Privatsphäre. Die Kindersterblichkeit war so hoch, dass Kinder erst mit 3 Jahren registriert wurden.
Die Hölle Dantes
Die Erwachsenen litten an Malaria und Rheuma, die Kinder unter Läusen und Ruhr. In „Christus kam nur bis Eboli“ schreibt Carlo Levi aus dem Blickwinkel des intellektuellen Arztes und Künstlers aus Norditalien: Sie sind so, wie wir uns in der Schule die Hölle Dantes vorgestellt haben. Ich habe noch nie ein solches Bild des Elends erblickt. Es wirkte auf mich, als wäre ich in der blendenden Sonne in eine von der Pest heimgesuchte Stadt gekommen. Rosario Liberatore, 55, gehört zur letzten Generation, die ihre Kindheit in den Höhlen, den Sassi, verbrachten: „Unterm Bett schliefen die Hühner, oben an der Decke schaukelten die kleinen Geschwister in Hängmatten. Alle Familienmitglieder lebten in einem einzigen Raum. Menschen und Tiere.“ Er blickt auf eine schräge Felswand, an die sich Dutzende von Höhlenwohnungen schmiegen. Eine der Höhlen ist seine Geburtsstätte. „Ich hatte eine glückliche Kindheit in den Sassi. Alle waren arm. Alle mussten zusammen halten.“ Eine Wohnhöhle besteht aus einem einzigem Raum, der als Küche, Schlafzimmer, Vorratsraum und Stall diente. Auf einer Seite gab es einen Kamin. Wände und Decken waren rauchgeschwärzt. Auf der anderen Seite, vertieft, ein Auffangbecken für Regenwasser. Schon in der Jungsteinzeit entwickelten die Halbnomaden ein System, das Regenwasser in unterirdischen Zisternen zu sammeln. Eis und Schnee der kalten Wintermonate konnten bis in die warme Jahreszeit aufbewahrt und zur Kühlung verwendet werden. Rosario Liberatore erinnert sich an dieses ausgeklügelte System, das ein Leben ohne Kühlschrank ermöglichte. „Alles Haltbare wurde in Tontöpfen konserviert.“ Noch heute gelten die Höhlen als ideale Weinkeller. Licht, Luft und Leute kamen nur durch die Türe in den Wohnraum. Fenster gab es nicht. Seit drei Jahren gibt es ein Höhlenmuseum. Mit Töpferei, Korbflechtwerkstatt, Hufschmied und anderen anschaulichen Beispielen früherer Handwerkskunst. Sogar eine Taverne gibt es. Verstaubte Karten liegen auf dem Tisch, Weinflaschen und Becher stehen darauf. Alles ist authentisch aufgebaut, mitten in den Höhlen. Das Zeugnis unserer Ahnen steht unmittelbar im Raum. Vergangene Jahrtausende sind zum Greifen nah. Und doch waren genau diese Höhlen vor wenigen Jahrzehnten noch bewohnt. Vor wenigen Jahrzehnten und vor Tausenden von Jahren.
Seit Jahrtausenden bewohnt
Das größte und einzige seit Jahrtausenden bewohnte Altstadtzentrum der Erde wurde 1953 zu einem weltweit historischem Einzelfall: Ein Gesetz ordnete an, die gesamte Bevölkerung aus den Sassi in neu errichteten Stadtvierteln umzusiedeln. Die Höhlenbewohner trauerten der Romantik der Höhlen nach. In den ersten Jahren kamen sie nicht gut in den modernen Apartments zurecht. In der Badewanne züchteten sie Gemüse und die ungewohnte Einrichtung wurde zersägt, um Feuer zu machen. Manche hatten solches Heimweh nach den wenigen Kilometern entfernten Sassi, dass sie illegal zurückkehrten. In den 60er, 70er und 80er Jahren waren die Sassi bis auf diese Höhlenbesetzer verlassen und kamen immer mehr herunter. Der komplette Verfall drohte den historischen Höhlen. Die Wende kam erst 1993 als Matera zum Weltkulturerbe der UNESCO aufstieg. Die Elendsquartiere der Nachkriegszeit sind heute von Bauzäunen umgeben. Betonmischer und Schubkarren flankieren Schuttcontainer. Leitern lehnen an den Wänden, Holzgerüste sind mit Ketten und Seilen am Tuffstein festgezurrt. Zwischen den Kleinbaustellen weisen eingerahmte Speisekarten und blitzende Messingschilder auf Restaurants, Rechtsanwälte und Softwarefirmen hin. Zwischendrin Miniaturvillas und Gärten mit Feigenbäumen. Alle Renovierungsarbeiten, die Materas alte Bausubstanz erhalten und Denkmalschutz pflegen, werden zum Großteil mit dem Entwicklungsfond der Europäischen Union finanziert. Eine Höhle nach der anderen präsentiert sich in sanierter Schönheit. Für Maurer gibt es noch mindestens ein Jahrzehnt Arbeit, bis Matera komplett renoviert ist.
Steinzeit
Die ersten Höhlen Materas entstanden in der Steinzeit. Der Meeresspiegel sank und hinterließ ausgehöhlte Tuffsteinwände. Sie boten den Menschen der Steinzeit hervorragenden Schutz vor stürmischen Winden, sengender Hitze, verheerenden Regengüssen und wilden Raubtieren. Der Mensch konnte die Naturkräfte nicht bezähmen. In den Höhlen Materas jedoch verstand er es bald, sich vor ihnen zu schützen. Er besaß zwei geschickte Hände und wusste sie mit Verstand zu gebrauchen. Hier konnte er Nahrung aufbewahren, Waffen herstellen, in Ruhe seine Kinder großziehen und das Feuer hüten. Matera war ein Grünwald des Paläolithikums, ein Filetstück prähistorischer Immobilienverhältnisse, der idealen Schutzmöglichkeiten wegen. Unten, in schwindelerregenden Tiefen fließt auch heute noch ein reißender und damals unüberwindbarer Bach, die Gravina. Rosario Liberatore reibt sich die Hände: „Da fingen wir Schlangen und Frösche.“
Jahrhundert für Jahrhundert
Jahrzehnt für Jahrzehnt, Jahrhundert für Jahrhundert, gruben die Bewohner weiter und schufen sich ihren idealen Wohnraum. Schaber, Stichel, Bohrer, Schalen, angeschlagene Steinwaffen und geschwärzte Holzstücke wurden aus den Grotten geborgen und gehören zu den ältesten Zeugnissen des homo sapiens. Hartgeklopfte Erdhaufen waren Betten und Tische. Mit natürlichen Nischen zur Lagerung der Vorräte hatte der Standort Matera die raffiniertesten Einbauküchen des Neolithikum. Umgeben von Heidekraut und Pinien entdeckten unsere Vorfahren an den Höhlen den Urknall des Wohnungswesens: Die negative Architektur. Sie höhlten den porösen Felsen aus. Es wurde einfach weitergegraben, wenn sich die Sippe oder der Bedarf an Raum vergrößerte. Dieses System gehört zu Matera wie die Erbinformation zur DNS. Wohnungen für Großfamilien, Einsiedeleien für fromme Mönche, Felsenkirchen oder pompöse Kathedralen – am Anfang wurde immer ausgehöhlt.
Gewirr von Gassen
Das Gewirr von Straßen, Gassen, Piazzettas ist heute behaglich und überschaubar. Die Fassaden der Höhlenwohnungen erheben sich von unten bis zum Gipfel des Hügels. Manche Fassaden springen hervor, andere sind zurückgesetzt, um Platz für eine kleine Piazza oder einen künstlich angelegten Garten zu machen. Auf engsten Raum schlängeln sich Straßen, die gerade so breit sind, dass ein Pferdefuhrwerk passieren könnte. Andere Straßen bilden zugleich die Dächer für die darunter liegenden Behausungen. Ein verschachteltes Labyrinth, ein ausgetüffteltes Steinmeer mit winzigen, aber üppigen Gärten und Balkonen und Terrassen, das sich erst auf den zweiten Blick als Wohnraum zeigt. Am eindrucksvollsten ist der Blick nach unten vom Hauptplatz. Auf der Cività, dem antiken Herz der Stadt thront eine Kathedrale. Eine der 155 Kirchen von Matera. Hier begegnet man dem Auf und Ab aller Generationen. Schiuma, die erste Konditorei am Platz hat dienstags Ruhetag und ist geschlossen. Der gleichnamige Inhaber sitzt trotzdem in seinem steifen, speckigem Anzug mit Hut und Weste vor seinem Laden. Pomadisiert und parfürmiert empfängt er Besuch. Die Dämmerung war hereingebrochen, am Himmel flogen Raben, und auf der Piazza erschienen zu ihrer Abendunterhaltung die Honoratioren des Ortes: Sie gehen hier jeden Abend spazieren, bleiben stehen oder setzen sich auf das Mäuerchen und warten mit dem Rücken gegen die letzten Sonnenstrahlen auf die Abkühlung, wobei sie ihre billigen Zigaretten rauchen.
Archäologische Sensation
Rosario bläst sein Streichholz aus. Tief inhaliert er seine Zigarette. Mit den anderen Herren seines Alters lehnt er über ein Geländer, das die mittelalterlichen Reste einer Piazza, eines Tonnengewölbes und einer Kirchenruine abgrenzt. Die archäologische Sensation wurde zufällig entdeckt, als die Renovierungsarbeiten der Europäischen Union begannen. So viele Völker sind über dieses Land dahingezogen, dass man wirklich überall etwas findet. Antike Vasen, Statuetten und Münzen aus alten Gräbern kommen ans Licht. Die Herren um Rosario sind sich einig: „Wir haben so viel Kultur, da kannst du Rom vergessen!“ Ein anderer weiß: „Die Gegend war in antiken Zeiten, noch bevor Rom seinen Zenit erreichte, auf Grund seiner geografischen Lage der Marktplatz Europas.“ Matera ist so uralt, da war es im Laufe der Jahrtausende alles mögliche: eine blühende Stadt und ein Schandfleck. Selbst das Wetter ist etwas besonderes. Kühler als die umliegenden Provinzen. Das milde Klima und die fruchtbare Erde ermöglichen zwei Ernten im Jahr.
Filmkulisse
Rosario Liberatore träumt davon, hier einen Film zu drehen. Die Stimmung des Mezzogiorno, die Verlassenheit einfangen, die nach dem Zweiten Weltkrieg ganze Dörfer dazu bewogen hat, auszuwandern. Ihn eingeschlossen. Die Herrenrunde plaudert über die Vergangenheit. Als das Wasser mit Eimern von den wenigen öffentlichen Brunnen geholt werden musste. Dass die Kinder bis zur Pubertät alle barfuss liefen. Dass keiner überhaupt länger als drei Jahre zur Schule ging. Die schwarzgekleidete Herrenrunde nickt. Klar, dass sie als Statisten mitspielen, wenn der Film gedreht wird. Telefonnummern auszutauschen ist unnötig. Sie sind immer hier. Ein genicktes „Buona sera” noch. Dann schauen sie wieder den Palmen beim Wachsen zu. Rosario Liberatores befindet sich mit dem Filmprojekt in seiner Geburtsstadt in bester Gesellschaft. Pasolini drehte hier, Francesco Rosi, die Taviani Brüder und viele andere. Das Who is who des italienischen Filmls erlag bereits dem morbiden Charme der einzigartigen Kulisse.
Wenige Touristen
Auch die wenigen Touristen, die in Matera ankommen, geraten in den Sog der Magie. Sie erliegen dem Zauber der Höhlenstadt, wenn sie das enge Gassengewirr erkunden. Bleiben immer wieder ehrfurchtsvoll stehen. Mit einem verklärtem Ausdruck auf dem Gesicht erblicken sie die Aussicht, die schon die Urahnen hatten. Als die sich unsere Vorfahren immer sicherer fühlten, die Höhlen zu verlassen begann der zweite Bauabschnitt in der Bronzezeit. Es entstanden Terrassen als Vorderfront und Steingärten auf den Dächern. Obwohl es kein Grundwasser und keine Quellen gab, gelang es den Bewohnern von Matera schon vor Tausenden von Jahren fruchtbare und blühende Steingärten zu kultivieren. Trockenmauern grenzten Terrassen ein, die mit Erde und Humus ausgelegt wurden. Durch gezielte Bewässerung entstanden Gemüsegärten, Viehstallungen und Gemeinschaftsplätze (Vicinati). Eine Sippe definierte sich weniger über Blutsbande als über den Vicinato, um den herum das Leben sich abspielte. Der gemeinschaftliche Raum wurde gehegt wie ein Zen Tempel. Noch heute gibt es diese kleinen, gepflegten Gärten zwischen den Höhlen. Rosario kratzt sich am Kopf: „Verglichen mit heute, war das Leben einfach. Keine Kühlschränke, keine Fernseher, keine Autos.“ Er schwärmt: „Abends saßen wir zusammen und sangen oder organisierten den nächsten Tag.“ Das Leben war über Jahrhunderte gleich. Es war beengt, aber einfallsreich. Der Mangel an Ressourcen, die daraus folgende Notwendigkeit, diese gemeinschaftlich und auf optimale Weise zu nutzten ermöglichten die beispielhafte Struktur dieser Siedlung.
Goldenes Zeitalter
„Der Mensch war nicht darauf bedacht, sein Umfeld zu seinem persönlichen Nutzen auszubeuten sondern versuchte mit den knappen Ressourcen hauszuhalten.“ Pietro Laureano, Autor eines Buches über Matera sieht die Einziartigkeit in dem Gemeinschaftsgefühl, das die Höhlen den Menschen abverlangten. Es erscheint wie ein Abglanz eines fernen goldenen Zeitalters. Die passive Brüderlichkeit, dies gemeinsame Leiden, diese resignierte, allgemeine, jahrhundertealte Geduld ist das tiefe Gemeinschaftsgefühl der Bauern, ein nicht religiöses, aber natürliches Band.
Als das klösterliche Leben im Mittelalter aufblühte, wehte ein frischer Wind über die archaischen Strukturen, in der die einfache Bevölkerung ihre Sicherheit fand. Auf dem kleinem Raum in Matera und um Matera herum fanden mehr als 20 Kulturen ihre Heimat und lebten fast durchwegs friedlich miteinander. Jahrhunderte nach dieser Blütezeit wurde die Höhlenstadt sich selbst überlassen und ab Anfang des 18. Jahrhunderts von den Feudalstrukturen Süditaliens geschluckt. Dennoch fanden die Materaner ihre Identität und ihren Stolz als Höhlenmenschen. Noch heute gibt es griechische, arabische, spanische, jüdische, etruskische frühchristliche und sogar heidnische Bräuche und Mahlzeiten. Diese Gerichte gelten als kulinarische Spezialitäten. Matera und die Provinz Basilikata wurden Schmelztiegel all dieser Kulturen.
Spezialitäten
Über die „Via della beccerie“ legt sich der Geruch nach Rosmarin und gegrilltem Fleisch. Im Mittelalter war es die Gasse der Metzger. Einen letzten Metzger gibt es noch zwischen einer Kunstgalerie und einem Eine-Welt-Laden. Manchmal macht er die arabische Spezialität „Gnemurielli“. Innereien werden mit Lorbeer und Rosmarin kunstvoll umwickelt und auf Spießen über dem Holzkohlegrill geröstet. Das Arme Leute Gericht stand schon vor tausend Jahren auf der Speisekarte. Der Geruch der röstenden Fleisches und der graue Rauch zogen durch das Haus und auf die Straße als Verkünder einer barbarischen Leckerei. Viele Kreuzritter blieben auf dem Hin- oder Rückweg aus dem Heiligen Land in der Höhlenstadt. Viele Klausen und Klöster wurden gegründet. Die religiösen Zentren, Klöster von Nonnen und Mönchen und Pfarreien entwickelten sich zum Ausgangspunkt des städtischen Lebens.
Felsenkirchen
Der heilige Franziskus kam 1218 nach Matera. Die ihm geweihte Kirche ist beispielhaft für die 155 Kirchen um Matera. Aus dem 13. Jahrhundert stammend, wurde sie im 17. Jahrhundert einer kompletten Veränderung unterzogen. Ganz tief im Inneren gibt es die Felsenkirche Peter und Paul, die Urzelle. „So hat jede Kirche in Matera eine Urzelle.“ Franco Palombo ist Kulturreferent und organisiert jedes Jahr eine Skulpturenausstellung in der Felsenkirche „Maria della Virtù“ aus dem 13. Jahrhundert. Erst war sie Zufluchtsort für Christen, später Kloster, dann wurde sie wieder erweitert und vergrößert und als Kirche genützt. „Maria della Virtù“ ist ein eindrucksvolles Beispiel für die wechselvolle Geschichte der Jahrhunderte. Ausstellungsräume sind die verschachtelten Höhlen. Das historische Ambiente könnte allenfalls in der Altstadt von Jerusalem überboten werden. Franco Palombo steht im Gewölbe und breitet die Hände aus, während er die Räume erklärt. Sich den 70-jährigen, der während der Ausstellung 3 Monate lang Hausherr der Kirche ist, als mittelalterlichen Abt vorzustellen, ist leicht. Rosario Liberatore und Franco Palombo kennen sich von früher, als Matera noch keine Kulisse für Stars und Künstler war. Die Kinder Franco und Rosario mussten mitarbeiten, um ihre Familien durchzubringen. Franco konnte deshalb nicht studieren, Rosario nur zwei Jahre zur Schule gehen. Er sagt: „Mit acht hatte ich mein erstes Geschäft, Maroni verkaufen!“ Rosario Liberatore holt seine Zigarettenschachtel aus der Hosentasche. Franco Palumbo schaut mit schmerzverzerrtem Gesicht auf das „Vietato fumare“ (Rauchen verboten) Schild. Rosario legt den Kopf schief: „Mein einziges Vergnügen. Ich rauche seit ich die Autobahn Köln – Bonn baute.“ Franco Palombo lächelt milde. Seit Generationen wanderten hier die Leute aus. Heimatlose und Entrechtete, die in der Armut und den verkrusteten Feudalstrukturen der alten Heimat keine Chance für sich und ihre Familie sahen.
Mezzogiorno
Zwischen den Weltkriegen gab es im Mezzogiono Dörfer, wo nur noch Frauen, Kindern und Greise lebten. Auch Rosario Liberatore verließ die Heimat, um sein Glück zu machen. 1953, als die Sassi evakuiert wurden, kam er als Gastarbeiter nach Deutschland. Ein Sieger in der Schlacht der Auswanderer lebte herrlich und in Freuden. Der wahre Wert des Geldes aber bestand darin, dass er es nicht durch Arbeit, sondern Geschicklichkeit verdient hatte. Der Baubranche kehrte er bald den Rücken und nach einigen Jahren als Kellner eröffnete er einen Feinkostladen in München. Manchmal tritt er als Gastschauspieler in deutschen Filmproduktionen auf. „Meistens wolln se mich als Bösewicht.“ Franco Palombo wedelt den Rauch mit der Hand weg. Rosario Liberatore entdeckt das Schild mit der durchgestrichenen Zigarette und bläst den Rauch aus den Nasenlöchern. „Is nur für Nichtraucher. Schau da nicht hin.“ Dann schwelgen Franco Palombo und Rosario Liberatore wie alle, die in den Höhlen aufwuchsen, von der guten, alten Zeit. Alle waren arm, alle hielten zusammen. Keine Autos, keine Schuhe, kein Geld. Aber alle waren geborgen und getragen von der Gemeinschaft in der Höhlenstadt. Dennoch sind sie sich einig, dass Matera nur gerettet werden konnte, weil die historischen und architektonischen Schätze von den öffentlichen Gelder profitieren, mit der die Renovierung voranschreitet. Auch das Hotel Sassi, einziges Hotel mit gehobenem Standard mitten in den Höhlen wurde mit Hilfe des Entwicklungsfonds der EU realisiert. Raffaele Cristallo, der Hoteldirektor ist stolz, in allen 17 Zimmern einen grandiosen Blick auf die Felsen und Höhlenstadt bieten zu können. Touristen gibt es zu seinem Bedauern aber noch zu wenige. Die einzige fremdsprachige Zeitschrift, die sich in der Stadt auftreiben lässt, ist ein improvisierter japanischer Stadtführer. Raffaele Cristallo zwinkert und Schalk bildet viele kleine Falten um seine grauen Äuglein: „Die Japaner finden überall hin!“
Geschrieben von Peter von Felbert
in Weite Welt
um
18:18
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Kommentare
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Oh mein Gott sind die schön. Was für eine wunderbare Reise am frühen Montag Morgen. Vielen Dank. Das macht große Lust auf leben und erleben. Und auf Intensität.
#1
Christof Hintze
(Homepage)
am
14.04.2008 10:19
(Antwort)
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