Dienstag, 12. September 2006
Sehnsucht orten
Man versucht sich seinem Sehnsuchtsort ein Leben lang zu nähern. Wobei nähern tatsächlich mit Bewegung zu tun hat: fahren, gehen, fliegen. Gemeint ist der geographische Ort mit Längen- und Breitengrad, mit Tag und Nacht, mit Straßen und Wegen, und Häusern – möglicherweise solchen mit Aussicht. Die Sehnsucht, diesen Ort zu finden, ist in einem drin; der Ort dazu aber irgendwie auch. Wie aber ist der Ort meiner Sehnsucht in meinen Kopf gelangt? Es muss Bilder von Orten geben, die es tatsächlich gibt. Und das stimmt mich hoffnungsvoll, sonst machte ich mich nicht immer wieder auf den Weg, den Ort meiner Sehnsucht zu finden. Dabei habe ich gelernt, dass Abbilder – also Fotos, Filme etc. – ganz selten die Realität so wiedergeben, wie sie ist. Manchmal sogar glatte Lügen sind. Bewusst bin ich mir genauso, dass Texte, die bei der Leserschaft ebenfalls Bilder hervorrufen wollen, nicht selten die Realität eines Ortes zu idealisieren suchen; um damit dem gesuchten Idealbild im Kopf des Lesers zu entsprechen. Das gilt vor allem für Reisekatalogtexte. Aber auch für Beschreibungen wie man sie in manchen Reiseführern liest. Auch der Fotograf – ebenso wie der Autor von Reiseartikeln – hat immer die Möglichkeit einen Ausschnitt des Ganzen zu wählen. Er kann sich, wenn auch auftragsabhängig, entscheiden, was er zeigt oder gerade nicht zeigt. Damit hat er die Macht über den, der seine Bilder betrachtet. Der Betrachter hat keine Wahl, als das zu betrachten, was ihm vorgesetzt wird. Naiv betrachtet der unkritische Betrachter den oder die Ausschnitte als das Ganze. Er macht sich daraus sein Gesamtbild, malt sich sein Panorama aus, und ist schon in die Falle getappt. Mit diesem Bild im Kopf macht er sich auf den Weg. Freimachen kann er sich davon nicht. Unterwegs dann wächst die Erwartung an das Neue gleichzeitig mit der Angst vor der Enttäuschung. Die Enttäuschung – das kennt der Suchende – ist immer möglich; sogar sehr wahrscheinlich. Er findet den Ort schön, ohne jemals da gewesen zu sein; und entwickelt hernach eine Sehnsucht, diesen Ort aufzusuchen.
Aber auch der kritische Betrachter mag es nicht, seine Illusion vom verheißenen (zuvor fotografierten, gefilmten, beschrieben) Ort zerstört zu sehen. Desillusionierung tut weh. Und so glaubt er lieber etwas mehr, als etwas weniger, dass er diesen Ort besuchen sollte.
Konsequenterweise sollte man den Ort meiden, in den man sich verguckt hat, den man schon kennt, ohne jemals vor Ort zu sein. Denn wie gesagt: Enttäuschung ist schmerzlich.
Der Ort, der enttäuscht, ist im Übrigen unschuldig daran, dass er enttäuscht. Er hat nicht danach verlangt, dass ich meine Sehnsucht gerade auf ihn projiziert habe. In Gedanken unterwegs zu meinem Sehnsuchtsort kommt die Frage auf: Was eigentlich ist ein Sehnsuchtsort? Welcher Art ist dieser Ort? Was ist typisch an ihm? Was unverwechselbar? Einzigartig? Ich fühle mich nicht berufen, darauf eine allgemeingültige Antwort zu geben. Ich kann nur für mich sprechen. Aber eine leichtere Aufgabe ist auch das nicht. Fest steht wohl, dass der Ort meiner Sehnsucht aus vielen Orten besteht, da ich aus meiner Reiseerfahrung weiß, dass ein einzelner Ort immer unzulänglich bleibt. Den prototypischen Sehnsuchtort zu finden – das kann ich mit Sicherheit sagen – ist unmöglich. Und so paradox es klingen mag: gerade dieses Wissen treibt mich weiter an. Paradox? Vielleicht. Für mich nicht. Weiß ich doch: Der Ort, ob er existiert oder nicht, existiert in meinem Kopf. Das habe ich auch gelernt. Und so folge ich gerne weiter meiner Vorstellung, die mir beständig einredet, der Ort befände sich ganz sicher irgendwo auf dieser Erde. Euphorisiert von der Vision, suche ich weiter, und suche weiter außerhalb meines Kopfes. Und möglicherweise ist die Suche danach, das was die Sehnsucht nach diesem Ort in ihrem Wesen ausmacht. Das gewisse Kribbeln, das ich spüre, wenn ich mich auf den Weg, auf die Reise mache. Mindestens hat der Weg zum Ziel einen wichtigen Anteil daran. Es ist aber immer auch die Suche nach einem Glücksgefühl, vielleicht nach dem Glück selbst. Und dieses Glück empfinde ich ganz stark – auch das habe ich gelernt – wenn ich angekommen bin. Wenn ich bei mir angekommen bin. Und ganz nah bei mir bin. Und wenn ich schließlich meine Gefühle nach meinem Sehnsuchtsort suchen lasse, gehen meine Gedanken zu konkreten Orten und Plätzen, in wirkliche Städte und Häuser, wandern durch ganz irdische Landschaften und kommen auch ans Meer. Diese Orte, die ich in das Bilderbuch meiner Erfahrung eingefügt habe, sind – das kann ich sicher sagen – untrennbar mit dem Schreiben verbunden. Mit dem intuitiven Griff nach einem Schreibwerkzeug. Kaum an dem fremdem Ort angekommen, muss ich schreiben. Alles scheint mir plötzlich interessant. Einige Orte von höchster Produktivität haben einen besonderen Platz in meinem inneren Album: Paris, St. Germain, Café de Flore und das Deux Magos; ebenso eine Parkbank sur la Place de Saint Sulpice; und Elba, da selbst Poggio, das kleine, windige Nest in den Bergen; oder der Gardasee, Torri del Benacco, später auch Riva del Garda; schon früher: Alto Adige, Südtirol, mein Tre Chiese hoch über dem Eisacktal; Katalonien, hinten die Berge und vorne das Meer, Platja sa Tuna und Begúr, die kleine Stadt auf dem Berg mit dem Blick zum Meer; ebenso Santa Margherita Ligure an der Riviera de Levante; und das Oberengadin im Winter, der Eintritt ins Paradies nach gelungener Flucht aus den verregneten Dolomiten, Tage am wärmenden Kamin des Saratz in Pontresina. Solche Orte sind wie das Echo meiner Sehnsüchte. Sie geben mir Sprache. So wie jetzt und hier: Graubünden im Dezember, im Schnee, im Sonnenschein, im Blick die dampfende Therme vor unserem Zimmer, Hotel Therme, Vals; Room 707; ich bin ganz nah bei mir selbst und ich schreibe. Ich schreibe: die Sehnsucht darf sich nie erfüllen. Das Wesen der Sehnsucht ist, dass sie unerfüllt bleibt, und uns dadurch am Leben erhält.
Geschrieben von
in Weite Welt
um
22:16
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Sehr spannend. Möchte jetzt gar nichts sonst dazu sagen, um das für sich und so stehen und wirken zu lassen.
schöner Gedanke. Bin ihm gefolgt so gut ich konnte ans Meer und durch die Berge. Und auch durch die Jahreszeiten. Danke für den wunderschönen Ausflug an getrieben durch die Sehnsucht.
Herzlich wilkommen.
peter von felbert