
Die wahre Kunst des (guten) Kellners besteht darin, darüber hinweg, durch und vorbeischauen zu können. Wer kennt das nicht: Man sitzt im Restaurant, die Suppe kommt, aber das Brot fehlt. Somit wird nun die Zeit knapp. Denn noch ist die Suppe heiß. Wenn man jetzt zu lange auf das Brot wartet, ist die Suppe kalt. Was man nicht will. So hält man Ausschau nach dem Kellner. Der seitdem wie vom Erdboden verschluckt ist. Hat die Polizei etwa eine Fremdarbeiter-Razzia gemacht? Oder hat er einen dringenden Anruf von seiner Frau bekommen, das 7. Kind kommt? Meine Bemühungen, den Kellner ausfindig zu machen, haben etwas von einem Wackeldackel auf der Hutablage eines Opel Commodore. Da war er. Kurz. Ganz kurz huschte er durch das Lokal. Da wieder. Da, das ist er. Das war er.
Jetzt fange ich an, meinen Arm wie ein 7.-Klässler in den Himmel zu recken. Also ob ich im Deutschunterricht endlich mal was wüsste. Aber er schafft es, an mir und meinem Begehren spurlos vorüber zu gehen. Er sieht mich nicht. Bin ich überhaupt da? Er kommt direkt auf meinen Tisch zu, aber alles Winken, Rufen, Anblicken erreicht ihn nicht. Er schaut durch mich durch und an mir vorbei. Es gelingt mir nicht, seinen Blick zu erhaschen. Ich werde lauter. Zu laut.
Er verharrt mitten im Restaurant – und wie ein Werwolf, ein Alien, das ein neues Opfer gewittert hat, dreht er sich um. Langsam. Ganz langsam. Er schaut mich angewidert an. Ich versuche ein nettes Handzeichen zu machen, dass so aussieht wie ein Brotkörbchen. Dazu wiederholen meine Lippen lautlos: Brot, Brot .... Brot. Er nickt und verschwindet wieder im Nichts. Einige Zeit später kommt das Brotkörbchen. Die Suppe habe ich längst lauwarm gegessen. Zudem ist das Brot entweder steinhart oder schwammig.
Diese Situation kenne ich in vielen Varianten. Einige Zeit dachte ich, ich wäre einfach so unscheinbar, dass mein Begehren untergeht. Aber wer mich kennt, und ich kenne mich auch, weiß, das kann man mal kategorisch ausschließen. Dann bin ich zu der Theorie übergegangen, das machen die mit Absicht. Die ziehen ihr Ding durch. Sonst bricht das Chaos aus. Aber ich habe mich im Lauf der Zeit daran gewöhnt, mich unmissverständlich durchzusetzen. Meine Frau leidet darunter. Aber ich habe zur heißen Suppe jetzt mein Brot. Und der Kellner hat schnell raus, dass er mir besser tief in die Augen schaut. Sonst ...
foto: peter von felbert