Montag, 26. Februar 2007
Ein Bruder
Das ist mein Bruder. Andreas. Er war der älteste meiner vier Geschwister. War?! Ja, er ist seit einigen Jahren tot. Er ist an Aids gestorben. Infiziert hat er sich während seiner Heroinsucht an einer Spritze. Oder bei einer Freundin, die auch Aids hatte. Ich weiß es nicht genau. Ist im Ergebnis auch Nebensache. Mein Bruder war vor langer Zeit deutscher Meister im Judo. Hatte über Jahre eine feste Freundin. Und er war gut in der Schule.
Da ich der Kleinste war, war er natürlich eines meiner großen Vorbilder. Denn er war in allen wesentlichen Parametern außerordentlich stark. Sehr stark. Somit wollte ich unterschwellig so sein wie er. Und wie mein anderer Bruder. Eigentlich wollte ich immer das Beste aus beiden sein. Genau das bin ich irgendwie auch hoffentlich geworden. Andreas gelang vordergründig eigentlich alles. Alles, was er sich vornahm, erreichte er oder bekam er auch. Er hat sich alles verdient. Er hat nichts geschenkt bekommen. Das imponierte mir. Die Geschichte würde zu lang, darum komme ich jetzt zum eigentlichen Learning für mein Leben. Das in allen Entscheidungen mitschwingt.
Nicht ist so, wie es scheint. Nicht bleibt so, wie es ist. Alles ist nur eine Momentaufnahme. Und wir können nicht hineinsehen in die Wirklichkeit. Da wo es oftmals wichtig wäre. Deshalb müssen wir uns immer an unsere Intuition halten. Denn rückblickend ist mein Bruder daran gestorben, dass er davon überzeugt war, dass nichts ihn umbringen könnte. Weit gefehlt. Dass seine Kräfte ihn alles bewältigen lassen würden. Überschätzt! Das ist eigentlich eine sehr positive Kraft und Einstellung. Außer sie verläuft plötzlich in die falsche Richtung. Dann ist diese Kraft ebenso negativ zerstörerisch wie sie auch positiv aufbauend sein kann. Das ist ein schmerzhafte und bittere und emotional sehr teure Erkenntnis, die mir zeitlebens sehr geholfen hat.
Denn auch in mir schlummern Kräfte, die, wenn sie falsch kanalisiert werden, sehr destruktiv und zerstörerisch sein können. Der Hang zu Suchtverhalten ist allgegenwärtig. Ebenso der, etwas Schönes zu schaffen. Der Schritt auf die falsche Seite ist eben auch nur ein Schritt, ebenso wie der auf die richtige. Wer die Grenze vom Licht ins Dunkle überschreitet, muss damit rechnen, nicht mehr zurück zu kommen. Dabei ist es egal, wie weit man geht. Die falsche Richtung ist das Problem. Und die fehlende Kraft, diese wieder zu ändern. Weil alles gebraucht und verbraucht wird, um tiefer und tiefer im Dunklen zu versinken. Der Energie ist egal, in welche Richtung sie verläuft. Und dabei ist es egal, ob man als Workaholic oder als Drogenabhängiger endet. Das Ergebnis ist dasselbe. Höchststrafe: frühzeitiger Tod.
Das ist wie Wasser, das seinen Weg immer findet. Deshalb ist Vorsicht geboten, auf wen man mit dem Finger zeigt, wenn man selbst schon längst einer anderen Sucht verfallen ist. Der Machsucht. Der Anerkennungssucht. Das Konsumsucht. Der Sucht ist egal, welcher Energie sie sich in falscher Richtung bedient. Sie endet immer gleich. In einer furchtbaren Katastrophe. Die Richtung, in die meine Energie fließt, muss ich immer kontrollieren. Bei allem, was ich mache. Eigentlich sollte eine Gesellschaft hier klare Richtungen vorgeben, meint man. Oder das Elternhaus, denkt man. Oder einfach die Vernunft. Aber so einfach ist es nicht, wenn solche Kräfte wirken. Man ist dafür schon selbst verantwortlich. Es ist ja auch eine Gabe, mit seinen Kräften, die einem gegeben sind, etwas durch und durch Schönes zu schaffen. Bei meinem Bruder ist die Bewegung irgendwann langsamer geworden. Dann zum Stillstand gekommen und dann in die andere – falsche – Richtung verlaufen. Dieselbe Energie. Dieselbe, mit der er deutscher Meister im Judo werden konnte, hat ihn unter die Erde gebracht. An die Stelle, an der er früher täglich Wurftechniken geübt hat, trat die Beschaffungskriminalität.
Somit bin ich davon überzeugt, dass es außerordentlich wichtig ist, immer mit offenen Augen die Fließrichtung seiner Energie im Auge zu haben. Denn wie gesagt, sie schafft das Unvorstellbare mit der gleichen Kraft wie das Wünschenswerte. Eine Lebenserfahrung, die in allem steckt, was ich mache und begleite. Woher kommt die Kraft, wohin fließt sie. Das Kanalisieren in erstrebenswerte Richtungen ist der wesentliche Moment dessen, was man Eigenverantwortung nennt. Oder überhaupt Verantwortung.
Ich habe noch viel mehr von meinem Bruder gelernt. Aber wer hat das nicht? Nur in meinem Fall, lerne ich noch Jahr für Jahr hinzu, obwohl er nicht mehr lebt.
(Foto: Thomas Hintze, Motiv: Andreas Hintze, im Frankreich-Urlaub)