Montag, 19. März 2012
Über Weichteile.
Meine Wahrnehmung ist vielleicht vergleichbar mit der eines Elektronenmikroskops. Ich nehme Dinge in tausendfacher Vergrößerung wahr. Das nenne ich selektive Wahrnehmung. Wie ein Koch eine Mahlzeit nicht mehr als Ganzes wahrnehmen kann. Wie der Musiker kein Konzert mehr als Ganzes wahrnehmen kann. So geht es mir mit vielen Dingen rund um Kommunikation, Marketing, Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft. Ich habe über die Jahre so viele Eindrücke sammeln können, dass ich vieles in unendlich kleine Details zerlegen und wieder zusammensetzen kann. Das lässt sich nicht verhindern, wenn man sich sehr aufmerksam und über lange Zeiträume hinweg mit denselben Dingen beschäftigt.
Das ist auf der einen Seite eine große Freude, weil ich vieles sehe, was andere nicht wahrnehmen können. Aber es ist auch ein ebenso großer Fluch. Denn ich kann den Betriebsmodus nicht abschalten. Ich betrachte alles in diesem Modus, und das nervt. Häufiger mein Umfeld, aber hin und wieder auch mich. Gerne würde ich die Schwächen, Stärken, Chancen und Risiken nicht sehen, sondern einfach nur das was ist und so wie es ist. Einfach. Ich wünsche mir manchmal gedankliche Einfachheit. Leere. Ruhe. Stille. Aber es geht nicht. Alles seziere, zerlege, atomisiere ich. Tiefer und tiefer. In Gedanken kann man immer tiefer in immer neuere Welten vorstoßen. Der Plot zu Raumschiff Enterprise, ist zu einem nicht geringen Teil mein gedanklicher Lebensentwurf. Nur dass meine letzte Folge noch nicht im Kasten ist.
Bei Bleistiften schreibe ich beispielsweise total gerne mit weichen Bleistiften. 4B oder besser sogar noch 6B. Das hat den Nachteil, dass die Stifte schnell verschwinden. Denn ein 6B schreibt sich schnell ab. Wesentlich schneller als ein HB. Der Vorteil überwiegt aber bei weitem. Man schreibt, als ob man mich Kohle zeichnet. Es fließt. Die Übergänge sind weich und geschmeidig. Mit einem 6B kommen die Wörter und Gedanken schöner zur Geltung. Da grenzt das Schreiben an das Malen.
Mit einem 6B kann man keine schlechten, üblen und hinterhältigen Wörter und Formulierungen schreiben. Was der OMM Writer als App für den Computer ist, ist der 6B Bleistift für das geschrieben Wort auf Papier. Ein 6B ist ein wahres Instrument, ein Schreibinstrument. Es ist das Cello. Wenn die Feder die Geige ist, dann ist der 6B Bleistift das Cello.
Wenn man schöne Wörter und Formulierungen mit einem 6B schreibt, dann ist die Vorfreude auf das Wort schon wunderbar. Und es wirkt noch schöner, als es ohnehin schon ist. Mit einem 6B wirkt fast alles Geschriebene und Skizzierte wunderbar. Weil das so ist, nehme ich oft einen 6B zur Hand. Ich habe in der Regel überall einen rumliegen und halte noch mehr in Reserve. Und das schreibt ein Nerd. Ein Internet-Entwickler, Gestalter, Konzeptioner und Macher.
Die Krönung aber ist ein Minenstift mit einer 6B Miene und einem Minenspitzer. Es ist immer noch ein Cello, aber ein besonderes - eins von Antonio Stradivari. Es ist ein Ritual, die Mine vor dem Einsatz zu spitzen. Sie muss so Spitz wie möglich sein. So spitz, dass bei der ersten leichten Berührung mit dem Blatt die Sitze ein wenig zerbröselt. Winzig. Kaum erkennbar. Nur für Menschen wie mich. Die spüren und sehen das und pusten dann leicht über das Papier.
Für den normalen Menschen und das normale Auge ist dieser Moment nicht erfahrbar. Aber für mich ist er das, und es ist einer der schönsten.
Er ist wie die Ouvertüre, es ist als ob man die Klinge des Rhetorikschwertes vor seinem Einsatz noch mal geschliffen hat. Geschliffen wie eine Rasierklinge. Geschliffen wie die sündhaft teuren und 200-fach gefalteten japanischen handgeschmiedeten Messer der Sushi-Köche. So scharf wie das Skalpell eines Chirurgen. Das geht nur mit einem solchen besonderen Schreibinstrument. Sonst mit nichts.
Die Tastatur eines MACs ist auf einem guten Weg, eine solche Verbindung abzubilden. Aber sie hat auf dem Weg einer 6B Mine gerade mal 20 Prozent des Weges geschafft. Was aber 100 Prozent mehr ist, als alles andere, was es da gibt.
Solange das noch so ist, werde ich wirklich wichtigen Dinge erst mal mit einem 6B zu Papier bringen. Gelernt habe ich das von meinem Texter-Lehrmeister. Jörg Grannemann. Er hat mir diese Kunst des 6B Stiftes zugänglich gemacht. Wie ein japanische, geheime Kampfkunst. Für das und vieles andere mehr bin ich ihm noch heute nach über 20 Jahren dankbar. Denn er war es, der mir die Türen und die Fenster zu dieser Welt geöffnet hat. Zeit mal Danke zu sagen. Danke Jörg. Und das Danke stell dir jetzt bitte geschrieben mit einem 6B auf einem feinen Fedrogonie Papier vor.
Das ist meine Art der Wahrnehmung. Und ich habe vieles noch weggelassen, damit es nicht zu langatmig wird. So habe ich die Farbe des Schreibgerätes außen vor gelassen, wie den Spitzer, die Papierbeschaffenheit, das Schreibgeräusch, den adäquaten wohlriechenden Radiergummi und anderes mehr.