Montag, 5. März 2007
Kommmmmmunnnnnnikation
Ich habe gestottert. Bis zu meinem 16. Lebensjahr habe ich kaum einen Satz geradeaus über meine Lippen gebracht. Das war eine Qual. Eine unendliche Qual. Vor allem in der Schule. Wer stottert, den begleitet immer das Vorurteil, er hätte was am Kopf. Eine Form von Geistesstörung. Er wird gehänselt. Man lacht laut, oder noch schlimmer, hinter vorgehaltener Hand über Stotterer.
Die allerschlimmsten Sitationen haben einem die Lehrer beschert. Wenn sie mich unaufgefordert drangenommen haben. Zum Vorlesen. Beim Vorlesen ist der Stotterer hoffungslos verloren. Weil er die Buchstaben nicht austauschen kann. Stotterer haben Buchstaben, die gar nicht gehen. Die nicht über die Lippen gehen. Dann gibt es noch eine nicht geringe Zahl von schweren Buchstaben. Und der Rest geht so. Somit wählt der Stotterer immer am Anfang eines Satzes Buchstaben, die ihm einfach über die Lippen gehen. Das geht beim Vorlesen nicht. Da steht, was da steht. Das ist der totale Horror. Lehrer haben früher keine große Rücksicht auf diesen Defekt in der Sprachmotorik genommen. Darum habe ich mich oft nicht gemeldet, obwohl ich die Antwort wusste. Oder ich habe einfach gesagt, ich weiß es nicht, um der Antwort ausweichen zu können.
Es schmerzt junge Menschen, wenn pausenlos über sie gelacht wird. Ab irgend einem Zeitpunkt habe ich mich dann entschieden anzugreifen. Ich wollte nicht mehr schweigen. Es war mir egal. Mein Ziel war es, selbst das Stottern zu überwinden, in dem ich mich pausenlos dem Sprechen aussetze. Da mussten alle mit durch. Mir war es eagl, ob die Mitschüler lachten. Mir war es egal, wie quälend dieses Gestottere für meine Umwelt gewesen sein muss. Mein Leben sollte nicht durch das Stottern berschränkt bleiben. Somit habe ich mich pausenlos in den Pausen geprügelt. Jeder, der glaubte, auf meine Kosten Witze machen zu können, bekam eine Tracht Prügel.
Dann wurde ich auch noch Klassensprecher. Die Betonung liegt auf Sprecher. Dem war nicht genug. Nein, ich wurde auch noch stellvertretender Schulsprecher. In einer Schule mit über 2.800 Schülern. Das bedeutet 12 Klassen in jedem Jahrgang bis zur Zehnten. Und so ging es weiter. Mein Selbstbewusstsein habe ich mir erkämpft und erredet. Immer und immer wieder.
Irgendwann war es dann vorbei. Oder sagen wir mal, so gut wie vorbei. Den Zeitpunkt kann ich nicht genau benennen. Es war ein fließender Übergang vom Stotterer zum Sprecher. Aber die Qualen sind mir noch in schlechter Erinnerung. So sehr, dass bis heute diese Zeit mir einen Schatten der Minderwertigkeit vorauswirft. So wie es aussieht, bis an mein Lebensende. Denn ich kämpfe noch immer. Jeden Tag. Jetzt nur mit anderen Waffen. Ich kämpfe um gute Kommunikation. Weil es für mich mehr ist als ein Anliegen. Es ist mir ein Bedürfnis, dass Kommunikation funktioniert. Mein Handycap von damals ist dabei mein größter Trumpf. Es ist meine größte Stärke geworden. Vieles, was ich heute bin und kann, verdanke ich dem Stottern. Das ist doch verrückt.
Deshalb, genau deshalb, ist und bleibt mir so unendlich viel an der Kommunikation gelegen. Ein Stotterer entwickelt eben Fähigkeiten, die andere nicht haben. Das muss er. Ebenso wie andere es nicht müssen. Blinde teilen dasselbe Glück. Gehörlose und Stumme. Sie entwickeln Fähigkeiten auf Gebieten, die anderen für immer in der Intensität verschlossen bleiben. Das ist nur fair. Denn es ist ein Ausgleich für das eigentliche Handycap. Mit dieser Einstellung sollte man alle Menschen mit Handycap betrachten.