Jeden Morgen denke ich: „Heute mal nicht.“ Dann
beschließe ich kurzzeitig, den Bart mal stehen
zu lassen. Und mich nicht wieder dieser Übung
hingeben zu müssen. Der Vorsatz hält in der Regel
nie lange durch. Denn nur einen Bruchteil später
überwinde ich mich dann doch. Mir scheint, es
wäre ein Merkmal, Ansatz, ein Indiz für Verwahr-
losung, für Gleichgültigkeit. Im Knast oder im
Urlaub, da kann das mal vorkommen. Aber im
normalen Leben ist das ein Hinweise. Den jeder selber
sich interpretiere. Also, rasiere ich mich doch.
Und die Argumente sind auch immer dieselben.
Meine Lieben mögen es nicht, wenn es kratzt.
Somit habe ich wieder eine fadenscheinige
Erklärung, die genügt, um den Rasierschaum aus der
Dose zu lassen. Das Rasieren ist so eine Konstante
in meinem Leben. Oft würde ich diese gerne ver-
ändern, aber außer einem kleinen Bärtchen hier,
einem gepflegten Drei-Tage-Bart dort, ist es immer
gleich geblieben. Glatt rasiert wie ein Kinder-
popo. Eigentlich nervt das Rasieren ungemein.
Denn es bringt Widrigkeiten mit sich. Als ich
endlich in die Pubertät kam, konnte ich es gar nicht
erwarten, ein Haar nach dem anderen zu rasieren.
Damals konnte ich noch nicht erahnen, was das
für lebenslängliche Begleiterscheinungen mit sich
bringt. Brennen der Haut, Schnitte, empfindliche
Stellen. Jeden Tag, jeden Tag, seit über 25
Jahren. Was da an Hektolitern Rasierschaum, an
Kilos von Rasierklingen schon bei draufgegangen
sind. Und wenn man bedenkt, dass man jeden Tag so ca.
drei Millimeter rasiert, dann sind das in 25 Jahren sage
und schreibe 27.375 Millimeter, das sind wiederum
2.737,5 Zentimeter, was wiederum 27,37 Meter ent-
spricht. Hätte ich also mich nie rasiert, würde
ich mit einem Bart von fast 30 Metern herumlaufen.
Unpraktisch und sicherlich auch anstrengend.
Man würde von meinem Gesicht nichts sehen und ich
könnte auch nur schwer aus den Augen blinzeln. Wenn
der mal in Brand geraten wäre oder wie viele Essensreste
darin spurlos verschwunden wären. Da ist man doch froh, den Bart
jeden Tag flach gehalten zu haben. Gilt für vieles im
Leben. Was man täglich rasiert, dann kein Ungetüm
werden.
19. Oktober 2004