Mittwoch, 20. Februar 2008
Seelenwanderung (Hansgeschichten)
Sobald er in den Wald kam wurde es kühl. Zuerst spürte er die Kühle im Gesicht, dann an den nackten Armen und dann um die Beine, die auch nackt waren. Am liebsten ging er, wo kein Weg war. Er stellte sich dabei vor, dass hier noch kein Mensch vor im gegangen war.
Dort, wo er am liebsten ging, reichte das Farnkraut bis zu den Hüften und kitzelte beim Gehen an den nackten Beinen. Oder er ging über einen dicken Teppich aus Tannennadeln, der einen harzig-süßen Duft verströmte. Oder er ging in eine Schonung hinein, wo junge Birken standen und gelbes Gras in dicken Büscheln wuchs, über die man stolpern konnte.
Dort, wo er am liebsten ging, war es ganz still. So still, dass er die Stille hören konnte. Kein menschliches Geräusch drang bis an diesen Ort. Dort, wo er am liebsten ging, hörte er das Kreischen der Mäusebussarde, die paarweise über ihm und über dem Wald ihre Kreise zogen. Er wusste, dass es mehrere waren, denn er wusste, dass Mäusebussarde fast nie alleine flogen und sich ein Leben lang treu blieben. Überhaupt wusste er viel über den Wald und die Tiere. Er hatte sein Wissen nicht nur aus Büchern. Er würde es später seinem Sohn erzählen, falls er einen Sohn haben würde. Er würde ihm die Stellen zeigen, wo die Bussarde flogen oder die Waldohreulen anzutreffen waren oder der große Buntspecht mit dem scharlachroten Fleck auf dem Kopf. Er war sich sicher, dass er immer in den Wald gehen würde, auch später, wenn er erwachsen wäre. Er konnte sagen, dass er es liebte und immer lieben würde.
Besonders liebte er es im Sommer, wenn es stickig war und schwül. Denn dort, wo er am liebsten ging, kam das Sonnenlicht nur fleckenweise hin und die Blätter der jungen Buchen fächerten einem noch Kühle zu. Er liebte es auch im Schatten eines bestimmten Eichenbaumes zu liegen und dem Singen der Blaumeisen zuzuhören, oder auf einen Hochstand zu steigen und sich die Welt von oben anzusehen.
Er liebte es auch, am Bahndamm entlang zu gehen, wo die süßen Brombeeren im August reif waren und es machte ihm nichts, dass die Sonne brannte und die Dornen beim Pflücken die Haut ritzten und es auf den Armen und an den Beinen zu jucken begann und dann zu brennen.
Er liebte es auch, oben auf dem Bahndamm zu gehen, die Gleise entlang zu sehen, endlos geradeaus in die eine und in die andere Richtung, bis er nur noch ein Flimmern der Hitze am Ende sah. Und manchmal fand er einen toten Bussard, der vor den Zug geflogen war und der nur das Genick gebrochen hatte und schlaff wie schlafend neben den Schienen im schwarzen Schotter lag; wunderschön und tot und noch edel im Tode und manchmal noch warm. Und dann mochte er den Vogel nicht begraben, denn er war zu schön in seinem braungesprenkelten Federkleid, zu schön der gelbe Schnabel und die gelben Greife zu Dolchen gebogen, zum Töten, zum Überleben. Er dachte, dass es besser gewesen wäre, der Zug hätte ihn in Stücke gerissen, dann wäre es leicht gewesen, sich von seinem Anblick zu lösen.
Als er die Wege ging, die er am liebsten ging, war er ein Junge gewesen. Er ging im August, wenn es nach Sommer roch, im Herbst bei klarem blauem Himmel, an Wintertagen über zugefrorene Pfützen, die beim Darübergehen krachten. Er ging auch, wenn er woanders war, wenn er träumte, mit geschlossenen oder mit offenen Augen, wenn er auf seinem Zimmer war, beim Essen am Küchentisch saß, auf dem Schulweg, oder wenn er an einen Beruf dachte, oder in den Ferien, oder vor dem Einschlafen und im Fieber.
Er ging die Wege immer und immer und er wusste, dass ein Weg, den er einmal gegangen war, und den er wieder ging, niemals dergleiche war. Er wusste auch, dass es noch viele Wege gab, die er ausprobieren wollte. Er wollte sie alle gehen. Alle allein. Allein war man frei, jeden Weg zu gehen.
Geschrieben von
in Weite Welt
um
18:25
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