Mittwoch, 25. April 2007
Das ungebügelte Wasser (Hansgeschichten)
Als sie den schützenden Hafen verlassen hatten, warf sich ihnen das Meer mit aller Kraft entgegen. Hans stand zum ersten Mal am Steuer des Seglers und versuchte den Kurs zu halten. Es ist gut, am Steuer zu stehen, dachte Hans, weil man dann an nichts anderes denkt, nur ans Steuern. Er hielt das Boot hoch am Wind, der steuerbords vor die Segel drückte und den Segler bis zur Decklinie in Schräglage gebracht hatte. Er kam sich vor, wie auf einem Kutschbock. Die Fahrt ging über Berg und Tal und Hans versuchte seine Furcht und seinen Mut in ein Gleichgewicht zu bringen. Wenn sich der Bug aufbäumte, presste er die Brust nah an das Steuerrad und wenn der Bug in ein Wellental sank, streckte er die Arme und legte den Oberkörper nach hinten. Von Zeit zu Zeit fegte eine Welle über das Boot und von Zeit zu Zeit drückte eine Böe in die gerefften Segel und verstärkte die Krängung des Bootskörpers.
Hans spürte wie die Nase des Seglers gierig war in den Wind zu kommen. Er hatte sein linkes Bein gegen die Innenseite der Bordwand gestemmt. Mit dem rechten Bein versuchte er die Schwankungen des Bodens unter seinem Körper, der in gelbem Ölzeug steckte, auszugleichen. Nach einer Wende ging es umgekehrt. Das rechte Bein wurde steuerbords gegen die Bordwand gestreckt und das linke federte die Auf- und Abbewegungen aus, die das Meer dem Boot diktierte. Nach zwei Stunden hatten Hans Beine angefangen zu zittern.
Der Mann, der Hans mitgenommen hatte, beobachtete die Kompassnadel.
„Halt den Verklicker im Auge, Hans”, rief er. Hans sah zum Masttopp.
Ob er da hinten die beiden Kirchturmspitzen gesehen hätte?, fragte der Mann und wies zum Horizont.
Hans nickte, als habe er die Kirchturmspitzen schon lange im Auge gehabt.
„Da mitten durch”, sagte der Mann.
„Ist das der Hafen?” fragte Hans.
„Medemblik”, sagte der Mann.
„Wie lange noch?” fragte Hans.
„Kommt drauf an”, sagte der Mann.
„Klar”, sagte Hans.
Über das Wasser kam ein Schwarm von Kormoranen in Keilform geflogen. Ein großes Plattbodenschiff mit zwei Masten und rostroten Segeln pflügte durch die graugrüne See und die Gischt schäumte am Bug.
Als der Wind etwas nachgelassen hatte, holte der Mann dem Vorsegel dichter. Er nahm die Winschkurbel und machte eine Umdrehung und noch eine. Die Winsch knarrte.
„Verdammt”, fluchte er, als das Segel mit einem lauten Kreischen einriss. Er gab das Tuch frei, machte ein Zeichen und verschwand im Schiff.
Hans war nun auf sich allein gestellt. Jetzt hieß es aufpassen. Er drehte die Nase des Seglers in den Wind und löste die Großschot wie er es gelernt hatte. Der Großbaum schlug nach Backbord und als die Allegra im Wind stand ließ sie die Segel flattern.
„War wohl morsch”, rief der Mann, der durch die Bugluke aufgetaucht war.
„Kann man ´ne prima Jacke draus nähen”, rief Hans ihm gegen den Wind zu.
Der Mann holte das gerissene Segel ein und stopfte es durch die Luke nach unten. Eine Welle schlug gegen den Bug und der Mann suchte Halt am Vorstag.
„Hol mal das Sturmsegel raus”, wies er Hans an und schloss dabei auch den obersten Knopf seiner Öljacke.
Hans verließ seinen Platz und kletterte in den Bauch des Seglers, bis ganz nach vorn, wo im Vorschiff das Sturmsegel bereit lag. Er schob es durch die Luke nach oben. Die Welle hatte alles nass gemacht.
„Das kleine Sturmsegel reicht bei dem Wetter allemal”, sagte der Mann, der nach oben geklettert kam.
Hans holte das Groß dicht und brachte die Allegra wieder auf Kurs.
Eigentlich habe ich ja das Sagen, dachte Hans. Er stand am Steuer und wer am Steuer stand, gab die Kommandos. Aber Hans dachte nicht daran, Kommandos zu geben. Er dachte nur daran, den Kurs zu halten und dachte nur an das Steuern.
„Gut gemacht”, sagte der Mann. Aber Hans sah nur die beiden Kirchturmspitzen voraus, die schon zum Greifen nah waren.
Mitten durch, dachte er. Er besah sich den grauen Himmel, aus dem weiße Wolken quollen.
„Da kriegen wir noch mal ordentlich Wind”, sagte der Mann.
„Dann geht´s schneller”, sagte Hans.
Der Wind blies jetzt wieder stärker und brachte auch Regen.
„In Böen sechs bis sieben”, sagte der Mann.
„Wie lange noch?” wollte Hans wissen.
„Schätze zwei Schläge noch.”
„´Ne Stunde, was?” sagte Hans.
„Kommt drauf an.”
„Klar”, sagte Hans.
Die Kirchturmspitzen waren gewachsen. Der Außenhafen kam in Sicht. Vor dem Grau des Himmels schienen die weißen und silbernen Maste zu leuchten.
„Da ist die Hafeneinfahrt”, sagte der Mann, „wir wollen in den Innenhafen.”
Der Wind war abgeflaut, die Wellen waren zu einem sanften Wiegen geworden. Der Mann hatte die Segel eingeholt und den Diesel gestartet. Das leise Klopfen des Motors klang Hans vertraut. Es erinnerte ihn an das Knattern der Segel bei mäßigem Wind.
Der Hafen war in ein sanftes, rötliches Licht getaucht. Ein Rot wie von billiger Brause. Es roch nach einem guten Abendessen. Hans fühlte sich gut. Das war nicht ohne, dachte er, und betrachtete die kleinen roten Backsteinhäuser, die dicht am Hafenbecken standen. Nur eine schmale Straße trennte sie von den Anlegern. Mannschaften machten ihre Boote fest. Andere streiften in Gruppen die Straße entlang und waren bester Laune. Große und kleine Boote lagen in Päckchen rechts und links an der Kaimauer.
Hans steuerte das Boot unter den Augen des Mannes bis zu einer Brücke. Die Ampel schlug auf Grün und die Brücke wurde hochgeklappt und der Mann, der Hans mitgenommen hatte, grüßte zum Hafenkontor hinauf.
„Lass mich jetzt mal ans Steuer”, sagte er, „geh du mal zum Hafenmeister.”
Hans sprang von Bord und drehte sich um. „Wie lang ist unser Schiff.”
„Zehn Meter siebzig”, sagte der Mann.
Auf den Booten rechts und links saßen Segler und redeten und tranken und lachten.
Hans kam zurück. „Steiger C 4”, rief er dem Mann entgegen, der die Achterleinen festzog.
Hans blieb auf dem Steg stehen und prüfte den Sitz der Vorleine. Das Holz, aus dem der Steg gebaut war, knarrte.
„War nicht ohne”, sagte der Mann, als er vom Boot sprang. Ohne Ölzeug war er viel beweglicher.
„Ja, wie auf Pudding”, sagte Hans.
Der Mann lachte. „Hunger, Hans?”
„Und wie”, sagte Hans, „und Durst.”
„Wir wollen auf den Tag trinken”, sagte der Mann.
„Ja”, sagte Hans, „das wollen wir.”
„War das das erste Mal?” fragte der Mann, dem jetzt das Heineken schmeckte.
„Das erste Mal auf so ´nem ungebügelten Wasser”, sagte Hans.
„Nicht schlecht für den Anfang”, sagte der Mann.
„Ja”, sagte Hans, „für´n Anfang gar nicht so schlecht.”
Unter dem Tisch zitterten Hans Beine.