Mittwoch, 20. September 2006
Psychologie des tiefen Wassers
Vor langer, langer Zeit trug es sich zu, dass meine Surfschüler in Ufernähe alle Manöver schnell erlernten. Die selbigen aber im tiefen und dunklen Wasser nicht beherrschten. Die Diskrepanz über das, was sich in Strandnähe und Entfernung vom rettenden Ufer abspielte, regte einen Gedanken in mir an.
Die haben Angst. Und Angst ist ein ganz schlechter Berater. Er wirkt sich auf die gesamte Physiognomie eines Menschen aus. Was er in ruhiger Verfassung aus dem FF beherscht, wird unter dem Einfluß von Angst gänzlich unmöglich. Dies war mir aber bis dahin mit einer derartigen Auswirkung nicht geläufig. Natürlich hatte ich von Prüfungsangst gehört, habe aber die eigentlichen Auswirkungen völlig unterschätzt. Das alles ist über 20 Jahre her. Aber es hat meine Einstellung zu den Ängsten anderer Menschen grundlegend geändert. Denn es hilft nichts, einfach nur zu behaupten: "Da braucht man keine Angst zu haben – hier gibt es keine Haie." Sondern der Ängstliche muss die Angst schon selbst überwinden. Und dabei kann man ihn unterstützen. Denn er hat zwei Möglichkeiten: Entweder seine Angst zu überwinden oder dieser einfach nicht zu begegnen. Beides sind akzeptable Verhaltensweisen.
Auch hier liegt ein wesentlicher Bestandteil im menschlichen Umgang miteinander. Die Angst des anderen zu tolerieren ist eine wesentliche, menschliche Option. Man muss die Angst nicht überwinden und ihr begegnen. Es macht das Gegenüber nicht stärker oder schwächer, denn wann und wo man seiner Angst begegenen will, ist eine persönliche Angelegenheit.
In unserer Gesellschaft wird Angst als Schwäche ausgelegt. Deshalb heißt es auch "Angsthase". Dabei ist die Angst ein wesentliches Instrument unserer Wahrnehmung, die das Überleben unserer Spezies bis heute gewährleistet hat.
Zurück zu meinen Surfern. Ich habe 10 Taucherbrillen besorgt und wir sind mit den Händen auf den Surfbrettern liegend raus gepaddelt. Alle zusammen. Und als es unter uns dunkel und tief wurde, haben wir einen Kreis gebildet. Ich bin dann ins Wasser gesprungen und bis zum Grund getaucht und habe Sand oder ein wenig Seegras mit nach oben gebracht. Alle anderen haben dabei vom Surfbrett aus unter Wasser geschaut und mich dabei beobachtet. Einige sind dann runter von ihrem Brett, erst ein wenig geschnorchelt und dann ebenfalls untergetaucht.
So haben alle gesehen, dass da unten eigentlich nichts ist, was einem Angst machen müsste. Sondern, dass da unten, im Gegensatz oben, der totale Frieden herrscht. Absolute Stille. Und schön ist es auch noch. Wie das Seegras sich in der Strömung hin und her bewegt.
Nach dieser Übung haben wir uns auf den Brettern stehend einen Ball zugeworfen. Es war unmöglich, den Ball zu fangen und dabei auf dem Brett zu bleiben. Aber niemand hatte ein Problem, ins tiefe Wasser einzutauchen. Sondern die Kunstsprünge nahmen immer elegantere Formen an.
So ziemlich alle in meinen Gruppen konnten somit die Manöver in Strandnähe oder großer Entfernung gleich gut. Wer trotzdem ein unwohles Gefühl hatte, dem habe ich die Entscheidung offen gelassen, Spaß am Tennis oder einer anderen Beschäftigung zu finden. Man muss keine Sekunde bewusst mit einer unproduktiven Angst leben. Wenn man dieser durch viel schönere Momente einfach ausweichen kann.
Reale Angst ist da was anderes. Der Überlebensinstinkt. Aber alle anderen Ängste sind es nicht wert, dass man ihnen mehr Raum als nötig einräumt. Dieser Überzeugung bin ich bis heute treu geblieben. Und im übertragenen Sinne, paddel' ich immer noch raus. Mit Kunden, Mitarbeitern und Lieferanten. Aber auch mit meiner Famile und Freunden.
Es ist eines meiner Lebensprinzipien und eine meiner Aufgaben geworden, Angst ernst zu nehmen. Und dieser, wenn es gewollt ist, zu begegnen. Denn wenn man alle destruktive und sinnlose Angst bewältigt oder überwindet, dann ist der Anteil der schönen Lebenszeit wesentlich größer.
Was ausschließlich positive Aspekte mit sich führt.
Geschrieben von Christof Hintze
in 02 . Blickwinkel
um
07:05
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