Sonntag, 14. Februar 2010
Neulich an der Tanke: Hast du keine Augen im Kopf?
Ich füll Spritzwasser nach und bring die Gießkanne in den Laden zurück, da fährt mir einer fast übern Fuß. Es war früh, ich schlecht drauf, alles kalt, Tanke nervt und nun auch noch dieser Trottel, der mir fast über die Füße fährt. Ich also gepumpt und gepumpt und dann das ganze Programm: 1. Lautstärke: Max. Volume. 2. Duzen, ja nicht so tun, als ob solche Bastarde noch zur Zivilisation gehören. 3. Gestikulieren mit großen, ruckartigen und unkontrolliert wirkenden Armbewegungen (das wirkt irre und macht evtl. Angst). 4. Rhetorische Fragen, immer wiederholen, ohne auf Antwort zu warten. 5. Auf den Boden geworfen, als wär ich Canavaggio, hab ich mir diesmal erspart, aber sonst war alles perfekt.
"Ja, spinnst du? Hast du keine Augen im Kopf? Bist du blind? Kannst du nicht Auto fahren? Gehts dir noch gut? Willst du mirs Bein brechen? usw.usf."
War ein schöner Moment der Menschheitsgeschichte: Dort der Trottel, hier ich, Krone der Schöpfung. Ich hatte gekämpft, für eine bessere Welt, und gewonnen. Beruhigt und befriedigt bin ich ins Auto gestiegen. War ein wunderbares Gefühl, gerade meinen heutigen Beitrag zur Erhaltung der Zivilisation geleistet zu haben. Irgendwie kam mir in den Sinn, wie der Typ da im Auto irgendwo so blöd gelacht hatte. Dieser ***** mit seiner dummen, blonden Mähne. In seinem F***-Mercedes, in seinem schw****. Ich muss übrigens erwähnen, dass meine Sehkraft mich verlässt. Ohne Brille ist alles nicht mehr wie früher. Als ich nachdenke, fällt mir nebenbei auf, dass ich den Typ im Auto nicht wieder erkennen würde. Nur diese Mähne vielleicht.
In diesem Moment fällt mir noch was ein. Nämlich, woran mich das erinnert, Mercedes, Mähne usw. Mein Nachbar sieht so aus und er hat auch ein Auto wie das! Und noch während mir das einfällt, hab ich gleichzeitig im Bauch ein ganz mieses Gefühl. Wenn das mein Nachbar war ..... dann hab ich grad meinen Nachbarn beschimpft. Fies, unflätig, ihn duzend, laut und alles in allem unzivilisiert. Shyce! In diesem Moment dreht sich die Geschichte. Mein Hochgefühl verschwindet, meine Überlegenheit ist weg. Ich finde mich einfach nur peinlich. Ich schäme mich. Mein Gott, ich hab meinen Nachbarn beschimpft. Und ich muss dazu sagen, er ist keiner, mit dem man mit zwei drei Bier alles regeln kann.
Interessante Erfahrung. Um es gleich zu sagen, er war es nicht. Ich hab ihn nämlich angerufen und gefragt, ob ich ihn eben an der Tanke beschimpft hätte. Nein, alles kein Thema, und selbst wenn, wir rasten ja alle mal aus usw. usf.
Das Interessante war, wie sich meine Bewertung geändert hat, als ich mir vorgestellt habe, mein "Opfer" wär jemand, den ich kenne. Nie im Leben würde ich wollen, dass mich ein Benkannter so erlebt. Denn ich bin nicht so resp. will so nicht sein. Aber warum bin ich es dann überhaupt? Eine ethische Frage.
Und es geht weiter. Es ist mir schließlich auch wichtig, dass mein Kind so etwas weiß und versteht. Als ich meinem Kind davon erzähle, meinte es nur, oh mein Gott, wie peinlich, wenn es wirklich der Nachbar gewesen wäre. Ich sagte, mein Problem wär ein ganz anderes: Wenn es Nachbarn gibt, denen gegenüber (m)ein solches Verhalten nicht okay gewesen wäre, dann ist es grundsätzlich und damit niemandem gegenüber okay. Doch das Kind versteht nicht. Es denkt, wenn ein Fremder sich blöd verhält, ist es okay, ihn zu beschimpfen. Ich fange seit Tagen immer wieder damit an. Das Kind bleibt bei seiner Meinung, und will inzwischen nicht mehr darüber reden. Das Kind will nicht einsehen, dass eine Privat-Ethik eine schlechte Ethik ist. Ganz einfach, weil sie - wie in diesem Fall - nie normativ werden könnte. Bin ratlos.