Donnerstag, 11. Januar 2007
Aus nächster Ferne

Die Mole, ohne Sonne und ohne Touristen, hat dem Abend und der Ruhe Platz gemacht, den Feuerwerkern, den Anglern, den Äteren, dem Aussichtsuchenden; der Patrona della cittá, der mamorweißen, die meerwärts blickt. Ein anderer, der meerwärts blickt, zählt die vor der Mole ankernden Segler, spürt den sonnengewärmten Stein unter den Füßen, sieht den Sohn, der unterhalb auf den Felsen sitzend die Füße ins Wasser hält, und hier schon seinen Lieblingsplatz gefunden hat. Italien, befindet er am Nachmittag, sieht gar nicht aus wie Italien. Er sagt: Havanna, wegen der Palmen; und auch die Häuser sähen so aus.
Ein Stück weit im Städtchen gibt es einen Verleih für Motorroller, wo die Signora die verbliebenen Roller aber allesamt für fahruntüchtig erklärt, jedoch Abhilfe verspricht: domani matina, vielleicht; domani sera, bestimmt; und dann Montag, Dienstag, Mittwoch, die ganze Woche – no problemo. Ein Motorroller für zwei, ja sicher, kein Problem.
Heute ist Samstag und das Linienschiff an der Mole kündigt die letzte Fahrt nach Portofino an; letzte Fahrt: ultimo viaggio a Portofino; oggi ventiquattro ora. Bis dahin ist noch Zeit; Bummelzeit, Essenszeit, Trinkenszeit, Ruhezeit.
Dem Sohn gefällt Italien. So viele Motorroller! Viel mehr, als in Holland. (Wieso Holland?) Sie befahren die Hauptstraße um den Lido herum. Laut, frech, schnell. Sie stehen vor Ampeln, vor der Bar, der Tabbacheria, stehen auf Plätzen, am Straßenrand, im Halteverbot, im Mittelpunkt. Aprilla, Vespa, Gilera – Que bella musica! Italien ist irgendwie verrückt, meint der Sohn. Wenn man es verrückt findet, denkt er, hat man es schon ein bisschen verstanden.
Die Vorbereitungen für das nächtliche Feuerwerk sind abgeschlossen. Die beiden Carabinieri besprechen sich mit den Feuerwerkern. Die Mole wird abgesperrt. Das Volk muss den Ort verlassen, wird freundlich zum Gehen gebeten. Auch, wenn er die einzelnen Worte nicht versteht, kann es kein Missverständnis geben; eindeutiges Mienenspiel, ausdrucksvolle Gestik; der Blick ist stadtwärts gerichtet.
Die Polizia Communale versucht dem Verkehr Herr zu werden. Sie dirigieren, wie große Komponisten, die Roller, die Motorräder, die PKW, die Busse; das ganze Blechorchester der Umgebung. Sie kommen von allen Seiten, wie Eisenspäne von einem riesenhaften Magneten angezogen.
Der Sohn spielt Gameboy, wovon er nichts versteht. Dass er fast nie liest, bedauert er. Er liest ihm darum manchmal vor. Kürzlich erst Hemingway Der alte Mann und das Meer. Der Sohn hat Fragen dazu: Was ist das für ein Meer, in dem der Alte fischt? Warum hat er den Jungen nicht mitgenommen? Er gibt bereitwillig Erklärungen ab. Er hofft, dass so das Interesse am Lesen anfängt. Noch in Deutschland hat er ihm ein Buch gekauft. Kurze Texte, vor allem aber Fotografien; Angriff der Klonkrieger, Droiden, Genosianische Aristokraten, Jedi im Kampf u.s.w. Die Jedi sind die Guten. Nur soviel versteht er davon.
Hier liest er ihm einige Kapitel aus seiner aktuellen Lektüre vor. Das Buch hat spannende Stellen. Ein Buch, in dem es um Bücher geht. Bücher, die nicht gelesen werden dürfen. Die man verboten hat. Balsac und die kleine chinesische Schneiderin. Sie haben beide Gefallen an dem Buch. Der Sohn als Zuhörer, er als Vorleser. Es ist eine Sache, nur zwischen den beiden.
Der Sohn findet die Reise gelungen. Bisher hätten sie noch nichts gemacht. Nur essen, rumlaufen, faulsein. Sie können es gemeinsam genießen. Darin sind sie sich ähnlich.
Seit ihrer Abreise hat der Sohn vorzugsweise von Motorrollern geredet. Er will ihm den Wunsch gerne erfüllen. Am dritten Tag mieten sie einen, Marke Peugeot, dunkelblau, verdammt schnell. Vorher suchen sie passende Helme aus. Der Sohn hätte lieber den roten Roller da gehabt. Die Signora probiert die Zündung des Roten, um nach der Tanknadel zu sehen. Dieser Helm ist dem Sohn aber zu klein! Più grande? fragt die Signora mit Blick wieder zum Tank. Der ist leider fast leer. Schade, der Rote hätte ihm gefallen. Das wiederum gefällt der Signora. Sie findet den Jungen jetzt molto simpatico. Der zweite Helm passt. Jetzt ist er selber dran. Ihm passt auf Anhieb der erste Helm. Wie lange sie unterwegs sein wollen, will die Signora wissen. Er sagt: Den Personalausweis habe er im Hotel vergessen. Sie sagt: Der Führerschein reicht. Gegen drei wollen sie wieder zurück sein, erklärt er, und fragt, ob der Roller ein Automatikgetriebe hat. Alles automatisch, gibt sie zu verstehen. Beim Starten ist der linke Bremsgriff zu ziehen. Sie sitzen jetzt drauf. Der gelbe Knopf startet den Motor. Und Achtung: nicht zuviel Gas! Gerade beim Anfahren… Aber auch nicht zu wenig! Avanti! Er hört sie noch rufen. Und alles auf Italienisch.
Das Continental ist die kleinere Schwester des Imperial. Es hat weniger Sterne, weniger Stil, aber liegt näher zum Meer. Es gibt kaum ein Hotel hier herum, das einen schöneren Park vorzuweisen hat. Man geht auf feinem Kies und sitzt auf Teakholzbänken unter Palmen, Pinien und Akazien. Ein grüner Balkon mit Blick aufs Meer. Dem Sohn gefällt die Aussicht. Auf den Felsen zu Füßen des Balkons stehen die Sonnenliegen. Von hier oben: blaue Akkuratesse. Ordnungsliebe, die fast übertrieben wirkt. Er denkt: Gleiche Sicht für alle; dem Meer und der wärmenden Sonne entgegen.
Warum er immerzu schriebe, will der Sohn von ihm wissen. Er schriebe, weil er nur so besser würde. Er wolle besser schreiben und schriebe deshalb viel. (Dabei schreibt er etwas in sein Notizbuch) Wie viele dieser kleinen Bücher es schon gäbe? Er weiß es selber nicht mehr so genau. Sie blättern gemeinsam zum Anfang des Büchleins zurück. Es ist das Siebte. Vorne hat er einen Stempel reingemacht. Name, Adresse, Telefon. (Angaben bei Verlust für den Finder) Darüber in Handschrift die Zahl 7. Jedes dieser kleinen Bücher hat etwa zweihundert Seiten. Format DIN A6; also Postkartengröße; die Seiten liniert. Meistenfalls mit Bleistift beschrieben.
Er sagt noch: Von Worten kann man keine Fotos machen.
Er ist jetzt 43. Der Sohn 11. Die Mutter war (ist) Grafikerin. Sie sind geschieden. Sie ist auf Urlaub in der Provence.
Sie verlassen die Mole. Er soll seine Sonnenbrille nicht vergessen. Sunglasses, sagt der Sohn. Er übersetzt: Sohn-Gläser. Sie lachen beide.
Entweder, wenn er groß ist, würde er Freizeitparkleiter oder Spielkonsolenerfinder oder Gnocchi-Esser. Italien ist das Land des guten Essens, sagt er, und putzt seinen Gnocchi-Teller mit einem Stück Weißbrot blank. Leons Speisen um die Welt, sagt er noch. In Italien finge er an.
Sie sitzt am Nachbartisch. Sie ist mit ihren Eltern (Schwiegereltern?) da. Sie ist selber Mutter. Ein Kleinkind, ein Baby auf dem Schoß. Die Familie spricht französisch. Als der Kellner kommt, spricht sie englisch mit ihm, weil der Vater, der bestellen will, italienisch nicht beherrscht. Sie bestellt für alle. Sehr sicher. Dabei wirkt sie irgendwie zerbrechlich auf ihn. Nein, zerbrechlich ist das falsche Wort. Sie sieht französisch aus. Wie eine französische Katze. Er weiß nicht, wie eine französische Katze aussieht. Ihre Augen fallen auf, die etwas zu weit auseinander stehen. Aber das macht ihm nichts aus. Er sieht ein glattes, sonnengebräuntes Gesicht. Dunkle Augenbrauen, dunkle Augen, kastanienbraunes, glänzendes Haar, das ihre Schultern umspielt. Sie ist schön. Offensichtlich nahtlos braun. Ein paar Mal sieht sie auf. Dann heben sich die Lider. Wie die einer Puppe, denkt er. Er sieht sie länger an. Was sie bemerkt.
Santa Margherita Ligure, Pizza Margherita Ligure; und danach noch ein Eis, per favore! Un gelato al yoghurt e fragola. Grazie! Worte, die nach etwas schmecken. Scusi, signora! Un altra spremuta d´arancia. Na, das geht ja schon ganz flüssig über die Lippen. Probier mal das: Spaghetti ai frutti di mare, Gnocchi al pomodoro, Trofie al pesto. So geht das den ganzen Tag. Und dann wieder la dolce vita am Morgen: due brioche con marmelata, cappuccino, zucchero; Grazie! Prego! Ich kann noch was essen. Dann bestell dir mal selbst. Nimm den Mund ruhig noch mal ordentlich voll!
Salzig auf der Zunge. Der Sohn kommt vom Baden. Die Strände sind fast alle in fester Hand von Bagnioleros. Man kann für teures Geld Sonnenschirme und Liegen mieten. Mezzo giorno? fragt er. Mezzo giorno geht nicht. Nur ganzer Tag. Es kostet im CENTRAL BAGNI! Morgen wollen sie einen Badeplatz finden, wo es nichts kostet. Der Sohn sagt: Irgendwas müsste man im Wasser tun können. Ein Zeichen von Langeweile. Er schlägt was vor: Mit dem Boot nach Portofino fahren, schattiges Plätzchen suchen, Füße ins Wasser halten. Beim Frühstück um zehn waren es schon 33 Grad.
Er sieht nach dem Sohn, der zur Badeinsel schwimmt. Wenn er im Wasser ist, kann er sich kaum aufs Schreiben konzentrieren. Wenn er auf der Badeinsel steht, kann er ihn an den Shorts erkenne. Er macht Kopfsprünge, taucht auf, klettert erneut auf die Kunstinsel. Er schwimmt wie ein Hund. Wenn er wieder zurückschwimmt zum Badesteg, muss er ihn im Auge behalten.
Wie kommt es, dass er jede neue Reise mit Abstand betrachtet? Es hat mit dem Schreiben zu tun, erklärt er sich selbst. Er, mitten drin, tritt heraus aus dem Bild. Er braucht diese Distanz, um beschreiben zu können. Denen, die später seine Texte lesen, wird es, so hofft er, anders ergehen. Er hofft, dass sie in seine Bilder eintauchen werden. Er will sich Mühe geben.
Essen am Mittag: Mozzarella, Pomodoro, Tonno. Der Sohn: Panini con Tonno. Das Essen ist mäßig. Die Bedienung freundlich. Der Platz schattig. Es geht ein leichter Wind. Sehr angenehm. Er wusste nicht, dass der Sohn gerne Thunfisch ist. Er trinkt einen Wein des Hauses. Weißwein, sehr trocken. Der Sohn: Coca Cola light. Er will abnehmen; weil pummelig. Er kann gar nicht glauben, dass er als kleines Kind mal dünn gewesen ist. Zum Nachtisch: Un gelato al limon für den Sohn. Er trinkt einen Espresso mit Milch; macchiato. Caffé Tubino ist hier am meisten verbreitet. Natürlich ist auch Illy nicht zu übersehen; auch Lavazza wird getrunken, wie überall in Italien; in halb Europa. Er denkt an Paolo Conte, den Sänger, der das Zitroneneis besingt.
Reisen ist etwas, dass ihn an sie erinnert. Sie waren gemeinsam viel unterwegs. Er denkt an L., an die Frau, mit der er lange Zeit zusammen war. Das Reisen erinnert ihn an sie. Es lässt sich einfach nicht vermeiden. Sie reist jetzt ohne ihn: Dubrovnik, Malta. Eine Freundin ist dabei. Sie schreibt: Alleine unterwegs sein, traue sie sich noch nicht. Nur nach Frankreich, wo der Onkel ein Schloss besitzt, reist sie allein. Sie ist jetzt 27; arbeitet an der Universität. Ein kleiner Lehrauftrag, wie sie selber sagt. Das erste selbstverdiente Geld. Sie kann sich endlich ganz allein versorgen. Sie fragt sich, warum ihr das so wichtig ist. Er freut sich für sie. Sie plant, eine größere Wohnung zu mieten. Mit einem separaten Arbeitszimmer, wie er eines hat. Das Diplom hat sie mit eins gemacht; insofern ist die Förderung berechtigt, die sie erhält. Sie zweifelt mal wieder daran. Er will ihr bald wieder schreiben. Er wird nicht jünger. Er freut sich schon darauf.
Dieser Satz in ihrem vorletzten Brief: Er solle nicht auf sie warten, sie sei noch lange unterwegs. Ein guter Satz aus Schriftstellersicht. Als Empfänger des Briefes ist er natürlich betroffen. Er ist kein junger Bursche mehr; insofern geduldig. Aber…
Er kennt ihr Geburtsdatum sein Jahren genau. Gemeinsame Reiseerfahrung. Das Hotel auf der Insel. Das Zimmer mit dem Safe. Er, der die Zahlen nicht liebt, soll sich die Kombination des Zimmersafes merken. Sie hat ihr Geburtsdatum eingestellt.
Die Handgelenke schmerzen. Er ist vor Tagen mit dem Fahrrad gestürzt; nichts gebrochen, aber verstaucht. Er kann die blauen Flecke zählen, wenn er seine Arme und Beine besieht.
Sein Ungeschick mit der italienischen Sprache. Er würde gerne besser sprechen können. Es reicht gerade so für die Bestellung im Restaurant oder ähnliche Situationen. Amerikaner, die es hier gibt, sprechen überhaupt kein Italienisch.
Ist Geduld ein Zeichen von Alterung?
Er hat ein Buch geschrieben. Wenn man ihn danach fragt, ist es ihm peinlich. Immerzu die Frage, um was es da geht. Wieso ist es ihm peinlich? Mit der Zeit, lernt er darüber zu sprechen. Er will Erfolg haben, und kein Hochstapler sein. Darüber sprechen, bevor es erscheint, könnte ihm Unglück bringen. Wieso jetzt Aberglaube? Wenn man ihn nicht fragt, spricht er nicht davon. Er findet gleichzeitig, er habe Anerkennung verdient. Er weiß, dass es nicht genügt, eines geschrieben zu haben.
Zu ihrem Zimmer gehört eine kleine Terrasse; mehr ein Innenhof, ein Verbindungsweg zwischen dem Haupthaus und dem höher liegenden Gebäude. Aus ihrem Zimmer führen zwei Stufen in den Hof. Terrasse sagt er, weil Tische und Stühle darauf stehen. Rundherum Steinmauern, Vorsprünge, auf denen Stauden wachsen. Viele davon in Blüte. Nach dem Abendessen kehren sie hierher zurück. Sie nehmen an einem der Tische Platz und er liest vor. Eine Lesestunde vor dem Schlafengehen.
Er versäumt nicht, ihm das Denkmal von Christof Columbus zu zeigen, das unmittelbar vor der Stazione Principe steht. (Zu klären wäre, warum vor dem Bahnhof und nicht am Hafen, am Meer…)
Wenn sie hier und da stehen bleiben, um Fotos zu machen, fotografiert er meist den Sohn. Wozu nur Steine fotografieren, die morgen und übermorgen auch noch da sein werden? Vom Bahnhof zur Altstadt runter kommen sie an der Universität vorbei, wo der Sohn, gerade erst angekommen, über Kopfschmerzen klagt. Sie suchen und finden das Café Mangini. Zum Frühstück: Cappuccino, Spremuta d´aranica, ferner drei mit Aprikosenmarmelade gefüllte Brioche. Genua an einem Mittwoch im Juli gegen zehn; Ende Via Roma an der Piazza Corvetto, im Jahre 2002.
Darf er der Mutter eine SMS schicken? Selbstverständlich darf er. Warum denn nicht? Er fragt immer. Er erlaubt immer.
Sie gehen in das Meeresaquarium, wo der Sohn einen Rochen streichelt. Er fotografiert. Am Eingang und Ausgang: Bettler. Er habe nirgends so viele gesehen, wie hier. Anschließend Besichtigung der Neptun. Dem Schiff, das eigens für einen Polanski-Film gebaut worden ist – ein Piratenschiff ganz aus Holz. Es riecht nach Holz. Er liest dem Sohn und sich einen Prospekttext vor: Angaben zu Länge, Breite, Geschwindigkeit, Bauzeit, Tiefgang, Gewicht, Kosten u.s.w.
Er sagt fast nie: Das weiß ich nicht. Stattdessen sagte er: Das ist eine gute Frage. Er versucht auf alle Fragen des Sohnes eine Antwort zu finden. Er weiß nicht wenig. Leidet jedoch ob seiner Unwissenheit.
Das man jemand sein kann, der man nicht ist, und trotzdem man selbst bleibt, ist eine neue Erfahrung für ihn. Zum Beispiel einen Schriftsteller spielen, auch wenn man es de facto überhaupt noch nicht ist. (sich aber so fühlt)
Salziger Sommerschweiß. In Schweiß gebadet. Und einmal den kleinen Arm im Acquario, wo er den Rochen streichelt. DO NOT TOUCH HIS EYES. A SHORT TOUCH IS BETTER THAN A LONG. Man müsste ein zweites Schild aufstellen; Text: Bitte berühren. Eltern freuen sich mit ihren Kindern.
Auf der Treppe vor dem Palazzo Ducale legen sie einen neuen Film in die Kamera ein. Eben wollten sie die Dogenkapelle betreten. Kurzhosenträgern wird aber der Eintritt verwährt. Er macht ein Foto von dem Sohn, der vor dem Eingang steht und auf das Verbotsschild zeigt. Er lacht. Dieses Verbotsschild! Kein Text. Bilder sind international. Ob dieses Verbot nur in Italien gilt? will er wissen. Auch in Spanien, erklärt er dem Sohn, in allen katholischen Ländern. Warum es verboten ist? Weil nackte Haut in den Augen der Kirche Sünde ist. Warum es Sünde ist? Da müsste man bei Adam und Eva anfangen.
Auch mit Plan gibt einem die Altstadt Rätsel auf. Wo man gerade ist, weiß man nie so genau.
26. Juli 2002; er liest eigentlich keine Horoskope/Schütze, 23. NOV. BIS 2. DEZ. – Ihre Aussichten in der Woche vom 28. Juli bis 3. August 2002 – Suchen Sie weiter, und bleiben Sie auf dem laufenden. Denn Plätze, die alle ihre Träume erfüllen, sind knapp.
Es gilt zu sehen, ob er es so antrifft, wie erwartet. Sie kommen mit dem Taxi. Ein aufziehendes Gewitter hat die See unruhig gemacht, und die Fährleute beunruhigt. Kein Boot mehr, und der nächste Bus erst in einer Viertelstunde. Übrigens regnet es. Es scheint, dass niemanden das wirklich interessiert. Piazza Vittorio Veneto. Die Taxen sind weiß. Der Regen ist warm. Der Fahrer, ein älterer, der etwas entfernt bei seinen Kollegen steht, kommt gelaufen. Sie steigen hinten ein. Viel teuerer als das Boot kann auch die Fahrt mit dem Taxi nicht sein. Links ist das Meer zu sehen. Rechte Hand das Miramare. Das Meer ist bleigrau. Das Miramare leuchtend weiß. Über dem Wasser zucken die Blitze. Autos und Motorräder fahren mit Licht. Die Straße windet sich in vielen, engen Kurven um die Felsen herum. Vor den Kurven wird von der Hupe Gebrauch gemacht. PUNTA BAGNO DELLE DONNE, PUNTA DELL`AGO, PUNTA PEDALE, PUNTA DELLA CERVARA. Dann die Einbuchtung von Parragi. Eine Sache von sechzig Sekunden vielleicht und gegenüber dann, sehr exponiert, das Castello di Parragi. Un affitto de B…, sagt der Fahrer nach hinten. – Hat er da eben den Namen Berlusconi gehört? Die Straße steigt jetzt an. Strada Statale SS. n. 227. In der Kurve die PUNTA CAIECA; und da geht´s die Straße zum Splendido hinauf. Best Hotel of Portofino, hört er den Fahrer sagen, der kurvt und hupt. Jetzt wird es aber wirklich eng…
Portofino – Versuch einer wörtlichen Übersetzung: Porto al fino, Hafen am Ende. Man fragt sich, was danach noch kommen soll: Alles erreicht? Reich ist, wer hier vor Anker liegt.
Versuch einer freien Übersetzung: Portofino – an der Spitze einer Landzunge gelegen. Mit der Zungenspitze schmeckt man am besten „süß”. Die Spitze, die das süße Leben schmeckt.
Noch ein Versuch: Portofino – ein Luxusprodukt italienischer Lebensart. Man schlüpft hinein in lässige Eleganz, und stellt doch fest, dass das gute Stück einem mindestens zwei Nummern zu groß ist.
Vierter Versuch: Portofino – ein Ort, den man malerisch nennt. Man weiß nie, ob die vielen Bilder, die nach dem Ort gemalt sind, wirklich nach dem Ort gemalt sind oder ob der Ort nach den vielen Gemälden gebaut worden ist.
Letzter Versuch: Portofino – Ein Ort, aus der Zeit gefallen. Ein aus der Mode gekommener Ort. Ein Ort parfümierter Gespräche und gedrechselter Komplimente. Die, die Urlaub haben, warten auf die, die Geld haben. Sonst passiert eigentlich nichts.
Sitzen, dass man nicht ins Schwitzen kommt. Und sehen, was vorbeikommt. Manche sehen aus, als hätten sie in Schokolade gebadet. Er selbst hat nicht mehr den Ehrgeiz in einer Woche oder in zweien am ganzen Körper gleichmäßig braun zu werden.
Sie verkaufen das Wasser in kleinen Flaschen. Jetzt also auch noch das Wasser. ACQUA DI PORTOFINO.
Direkt um die Ecke bei ihrem Hotel werden Autos von Blech- und Lackschäden kuriert, werden Settecento-Stühle aufgepolstert; werden Fensterläden von alter Farbe befreit, geschliffen, lackiert; werden caffés in der Bar getrunken; übrigens auch von den Carabinieri.
Unten die Blaue Stunde aus Meer und Stadt, wohingegen man hier oben zwischen Olivenbäumen geht. Man kann auch weiter ins Land hinein sehen, wenn man sich nur dreht. Man kann hinter bewaldeten Hügeln baumlose Berge sehen. Man kann Ansammlungen von Häusern erkennen. Man könnte noch ewig so gehen; zwischen Himmelsazur und Meeresblau. Man könnte noch weiter den Zikaden zuhören.
Man sieht auf blanken Steinboden und auf blanke katholische Pracht. Man verschafft sich einen Einblick, indem man als Standort den Eingang wählt. Man sieht auf die Hinterköpfe, meistens grau. Man sieht auf prunkvolle Lüster, auf heiligen Schein. Weiter vorn kann man den Prediger sehen. Man kann sich vorstellen, was er da spricht. Er spricht mit Nachdruck in ein Mikrofon. Er gibt einen Dauerregen an Worten ab. Ein warmer Landregen, der die Gemeinde nicht zu erfrischen vermag. Draußen kann man auf der breiten Steintreppe sitzen, die mit Kieselsteinen gepflastert ist, die irgendein Muster ergeben. Man kann auf das Meer hinunter sehen und sich gänzlich der Blauen Stunde hingeben. Man kann die Lichter der Stadt betrachten und weiter der Stimme des Priesters lauschen. Man kann, auch wenn man weiterhin auf das Meer dort unten sieht, das Bild des Priesters vor sich sehen, der kaum einmal aufschaut, während er spricht.
Wieder sein Verdruss über das Nicht-Beherrschen der Sprache. Liedertexte aus dem Radio, ein belauschtes Gespräch am Nachbartisch, Botschaften auf Werbeplakaten; selbst, wenn ihm einzelne Worte bekannt sind, kann er den Gesamtsinn nicht immer erfassen. Er empfindet seinen Zustand als Behinderung. Wie ein Behinderter kommt er sich vor, weil ihm die Worte fehlen. Was er versteht, hat er sich fast alles selbst beigebracht: ein belauschtes Gespräch am Nachbartisch, Liedertexte aus dem Radio, Botschaften auf Werbeplakaten.
Sein Verdruss über die schlechte Verdauung.
Weiter sein Verdruss über die Schwüle.
Weiter sein Verdruss über die schweren Koffer.
Weiter sein Verdruss über den Verdruss und die Erkenntnis, dass nur Schreiben hilft.
Botschaft auf Werbeplakat: (ITALCAFFEÈ) DUE MINUTI SPESI [...Nächste Seite]
Ich wollte eigentlich grad etwas Unsinn schreiben, doch das ist mir nun zu ... profan. Nach allem Italien und italienischen Essen und warmen Stein unterm Fuß.
Der 26. Juli war ein Dienstag. Ich weiß noch, was ich da gemacht habe.
(Ich bin gerade verunsichert, ob das wirklich der Dienstag war, der 26.)