Freitag, 21. September 2007
Empfangsstörung
Ein Paradigma wird gemeinhin mit Beispiel oder Muster übersetzt. Für mich schwingt auch immer der Begriff „Rolle“ oder „Rollenverhalten“ mit. Ein schönes Beispiel für verändertes Rollenverhalten lieferten mir in den vergangenen Wochen die Münchner S- und U-Bahnen.
Als ich vor Sommerferienbeginn mit der S 1 heimfuhr, fiel mir in dem herrschenden Lärm auf, dass von den guten zwei Dutzend überwiegend jugendlicher Fahrgäste alle ohne Ausnahme entweder Kopfhörer im oder Handy am Ohr hatten. Ein akustischer, gleichwohl unsichtbarer Kokon umschloss quasi jeden Heranwachsenden.
Wie war das denn damals bei uns, fragte ich mich? Es gab noch keine Handys oder MP3-Player. Ein Computer hatte noch die Ausmaße eines Kühlschranks und wurde von grauen Männern in weißen Kitteln bedient. Fernsehen hatten nur einige wohlhabende Familien in der Straße mit der aufregenden Auswahl zweier Programme. Ein Zeitvertreib für erwachsene Stubenhocker war das.
Nein, wir Kinder und Jugendliche haben uns während der Busfahrt direkt mit unseren Freunden unterhalten, getobt würde man heute sagen. Wir nahmen Songs aus der Hitparade aus dem Radio übers Mikrofon aufs Tonband auf und hofften, dass der Moderator nicht zu früh reinquatschte oder die Mutter ins Zimmer kam. Wir radelten zum Schwimmen an den See, spielten Fußball auf dem angrenzenden Bolzplatz und feierten Partys mit Flaschendrehen im ausgebauten Keller. Kurzum: Wir brauchten weder Strom noch Geld. - Eine grauenhafte Zielgruppe für die werbetreibende Wirtschaft.
Als ich in den Sommerferien ein paar Wochen später wieder mit der S 1 nach Hause fuhr, bot sich mir ein gänzlich anderes Bild und die Akustik eines Münchner Museums am Mittwochvormittag. Etwa 20 Fahrgäste saßen mit mir im Abteil. Alle jenseits der 25 und bis auf zwei Damen, die sich unterhielten, lasen alle. Die meisten in einem Buch, einige in einer Tageszeitung.
Während wir, also das gute Mittelalter, offensichtlich überwiegend optisch geprägt sind, scheint die nachwachsende Generation zum Großteil akustisch orientiert. Das hat natürlich deutliche Auswirkungen auf die Informationsaufnahme und -verarbeitung.
Was mir zu denken gab, ist die offensichtliche akustische Abschottung von der Umwelt, die ich lieber als Mitwelt bezeichnen würde. So verkabelt, lebt jeder nachweislich in seiner eigenen Welt, ohne die Umgebung explizit wahrzunehmen. Der Egoismus verankert sich bei einer so aufwachsenden Jugend gleichsam automatisch System immanent. Wie sollte auch jemand, der sich gerade über Kopfhörer eine volle Dröhnung von Linkin’ Park gibt, die noch fünf Meter weiter als unangenehmes Geräusch, das an eine Müllpresse erinnert, wahr genommen werden kann, aufmerksam werden, seinen Sitzplatz vielleicht der alten Dame anbieten, die gerade mühsam humpelnd an ihm vorbei ächzt?
Umfassende Untersuchungen bei Autofahrern haben vor dem Handyverbot im Auto nämlich ergeben, dass Autofahrer während sie mit dem Handy telefonieren, die gleichen Symptome zeigen wie unter einem Alkoholeinfluss von etwa 1,2 Promille. Das menschliche Gehirn ist einfach noch nicht in der Lage, während es auf dem akustischen Kanal gefordert wird, gleichzeitig den optischen Kanal störungsfrei zu bedienen.
In der Psychologie spricht man hier von „selektiver Wahrnehmung“. Es gilt also normaler- und ausnahmsweise „ent- oder weder“, nicht „sowohl-als auch“. Das ist zwar schade, aber nicht zu ändern.
Wenn Sie also das nächste Mal in der U-Bahn einen „simsenden“ Jugendlichen ansprechen, ob er seine Boots freundlicherweise von ihrem Sitz nehmen könne und der sie lediglich etwas belämmert anstarrt, ist der nicht zugedröhnt. Er empfängt und sendet gerade nur auf einem anderen Kanal.
Geschrieben von Kai Falkenberg
in Paradigmenwechsel
um
07:16
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Tags für diesen Artikel: akustik, empfang, empfänger, handy, kanal, kopfhörer, mp3 player, optik, Paradigmenwechsel, pisa, sender, sendung, sms
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