Mittwoch, 20. Dezember 2006
Buffalo
In Ilanz überqueren wir den Vorderrhein. Wir lesen: 20 km Vals. Es schneit unglaublich fein. Die Bäume, es sind Tannen, sind als solche bald nicht mehr erkennbar. Ihre Konturen heben sich gegenseitig auf. Dahinter der Hintergrund, der aber gegen den Vordergrund kaum mehr auszumachen ist. Der Wald, der Berg, die Schlucht – alles beginnt imaginär zu werden. Das Reale, verdammt Reale, ist die Straße, und ich fühle wie diese Straße die Welt um uns herum vergessen macht. Wir sind gewarnt. Einige Male schon schlingerte der Wagen bedenklich hin und her. Die Straße führt uns immer fort durch Tannenwald. Ich sehe die Bäume. Sie sind groß, und so dicht an der Straße stehend kommen sie mir jetzt noch größer vor. Ein Schleier aus Schnee verbindet die Bäume über die Straße hinweg. Die Straße war frei gewesen. Die Glätte verbirgt sich jetzt unter dem neufallenden Schnee. Ich vermeide es, allzu schnell zu fahren. Ganz allmählich legt sich die Dunkelheit über den Wald und über die Straße und über den Talgrund rechts der Straße und über den darin fließenden Valserrhein. Das, was vom Tageslicht übrig geblieben ist, verwandelt die Welt. Verzaubert schön der Weg, der vor uns liegt, die Bäume schemenhaft, und der im Scheinwerferlicht gelblich aufleuchtende Schnee. Die Schönheit der Straße steht im Kontrast zu den Schwierigkeiten, die wir mit ihr haben. Ki fürchtet sich und hält ihren Sitz fest umklammert. Die Langsamkeit talwärts fahrender Wagen zeigt mir jedes Mal die Vorsicht ihrer Fahrer an; und die greller werdenden Lichter aus dem Nichts, die wachsende Dunkelheit. Aber Wagen kommen nur selten das Tal herab. Dann Tanz der Flocken im Scheinwerferlicht. Kratzspuren auf vergilbter Fotografie. Aber es sind keine Kratzer und es ist keine Fotografie. Vor uns ein vollkommen irdischer Weg. Ein Licht aber auch, als ob dieses Stück Welt jeden Moment von der Bildfläche verschwinden könnte. Hinter uns schon Dunkelheit. Nirgends das Licht eines uns nachfolgenden Fahrzeugs. Ich versuche ein Gefühl für die Strecke zu bekommen. Die Straße ist ganz unterschiedlich breit. Die engten Stücke führen um Bergnasen herum oder über Einschnitte im Fels, über die man schmale Brücken, mal aus Holz mal aus Stein, gebaut hat. Der Weg führt keinesfalls ständig hinauf. Die Linke am Steuer, die Rechte am Schalthebel, immer bereit die Automatik auf den nächst kleineren Gang zu tippen und den Motor für uns bremsen zu lassen – je nachdem wie abschüssig die Passage gerade ist – versuche ich die Kontrolle über mich und den Wagen zu behalten. So gehen ganz lange Sekunden vorbei. Mir kommt es vor, als bewegten wir uns gerade noch wie eine Schildkröte, die sich nur einmal in der Stunde regt. Und noch zehn Minuten bis Buffalo. Meine Gedanken haben sich inzwischen selbständig gemacht; gehen rückwärts, während wir uns nach vorne quälen. Schon spielen sie mit der Möglichkeit zu wenden; das Heck voran den Berg hinauf. Oder den Rückzug antreten und es mit neuem Schwung versuchen. Sehen, hören, sagen, denken. Alles zur gleichen Zeit. Um uns herum weiter lange nichts. Das Nichts ist die Dunkelheit, in dem ein erleuchtetes Haus am Straßenrand schon zum Ereignis wird. Mein Kopf assoziiert: Haus – Häuser – Dorf. So eilen meine Gedanken voraus: ganz weit hinten im Tal, da wo diese Straße ein Ende haben wird – das ich mir im Stillen rascher herbei wünsche – dort soll es ein Dorf namens Vals geben, dem ein berühmter Architekt ein Felsenbad entworfen hat, das diesem unscheinbaren Graubündner Flecken zu einem in aller Welt leuchtenden Ansehen verhilft; eine Vision während ich gleichzeitig mit der Straße bemüht bin. Minütlich versichere ich mir, dass unser Wagen auf Winterreifen fährt. Wiege mich in Sicherheit. Ki mag nicht in die Schlucht hinunter blicken; tut es aber doch. Ich kann nicht sagen, was sie sieht. Vielleicht nichts. Sie sagt nichts. Ich sage, dass es besser gehen würde mit Vorderradantrieb, als unser Wagen wieder und wieder auszubrechen droht. Ich versuche eine bessere Spur zu finden. Eine Spur, die mehr Halt geben würde. Ich halte nach links auf den Berg zu, weil ich dunkle Rinnen, Fahrspuren ausmachen kann. Vielleicht die Straße, der Asphalt, vielleicht Splitt. So schlingern wir weiter. Immer ein paar Meter weiter hinauf. Mir kommt es so vor, als sei es fast sinnlos. Viel zu glatt. Es ist nicht zu verleugnen, dass wir immer langsamer werden. Und als ob Worte helfen würden, sagen wir: Komm! Komm! Weiter! Noch ein Stück! Weiter! Weiter! Weiter! Bis zum nächsten Tunnel, zur nächsten Galerie! Zum nächsten schneefreien Stück! Komm! Komm! Das wird knapp! Um immer drehen die Räder durch. Die Kraft, die nicht nach vorne treiben kann – sie drückt das Heck zur Seite weg. Die Nadel des Tourenmessers – sie fährt bei jedem Druck aufs Gaspedal wie erschrocken hoch und fällt im nächsten Augenblick, ohne Pedaldruck, jäh zurück. Jetzt vor uns, fest im Blick, der Tunneleingang. Nur wenige Meter fehlen uns noch. Das wird knapp, sage ich. Komm! Komm! Und immer drehen die Räder durch. Man könnte auch wirklich verrückt werden dabei. Und noch fünf Minuten bis Buffalo. Doch jetzt geht alles ganz schnell: Ich sehe die Distanz sich verringern. Ich höre den Motor sich quälen. Ich sage unsere Komm-Weiter-Komm-Beschwörungsformel noch einmal auf. – – – Und eben kommt einer aus dem Tunnel heraus, und wir gerade noch hinein, und unter uns endlich fester Grund, und die Kraft, die uns nach vorne schießt. – – – Dieses Mal war es nicht das Ende des Tunnels, denke ich. Es war der Anfang. Geschafft, sagen wir froh; heilfroh. Dann, im Tunnel, nehmen wir noch einigen Schwung. Es kommt mir wie ganz tief durchatmen vor. Wir brauchen Anlauf für das letzte Stück Weg. Den letzten Anstieg vor dem Ziel. Noch zweimal um Kehren herum. Zwei letzte Minuten bis Buffalo…
Geschrieben von
in Weite Welt
um
20:06
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